FIPS NEWS NR. 19: Krisenintervention und Suizidprävention bei Gefangenen – Dokumente Teil 4

Editorial

In FIPS NEWS Nr. 19 beenden wir vorerst die Informationen über die Personzentrierte Krisenintervention und Suizidprävention bei suizidgefährdeten Gefangenen.

Zu unterschiedlichen Aspekten unseres Konzepts der personzentrierten Sozialpädagogik und Kunsttherapie mit Suizidgefährdeten befinden sich in den Ausgaben von FIPS NEWS Nr. 1, 2, 6, 7, 10, 11 und 18 weitere Artikel.

Die Fotos in diesem FIPS NEWS wurden auf der Vernissage der Ausstellung „Verschlossene Welten“ in der Karmeliter-Kirche in Mainz am 15. September 2018 aufgenommen, in der von suizidgefährdeten Gefangenen in den Behandlungsgruppe gezeichnete und gemalte Bilder ausgestellt wurden. Die Spiegelungen in den Fotos geben den Bildern einen einzigartigen, surrealistischen Ausdruck. Es handelt sich um private Fotos.

1.6.2020 Dr. Peter Milde

Interview mit der Gruppenleiterin, Kunstdesignerin und Künstlerin Eva Leitschuh über ihre Erfahrungen in der Krisenintervention von Gefangenen

Wie läuft so eine Gruppensitzung ab?

Ich komme morgens in den Raum, die Gefangenen kommen, wir begrüßen uns und ich mache eine Blitzlichtrunde: „Wie geht’s Ihnen?“ Ich bin sensibel dafür, wer was besprechen muss. Manche haben ein großes Redebedürfnis und Manche sind eher die Stillen. Ich sorge dafür, dass diese auch zu Wort kommen. Dann fangen wir mit dem Malen an. In der Gruppe können wir auch, Gott sei Dank, Kaffee oder Tee kochen. Diese kleine Zeremonie schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre und es entsteht ein bisschen Normalität. Dies vermittle ich auch damit, dass ich etwas Authentisches von mir mitbringe. Ich bin Grafikdesignerin und Künstlerin. Die Gefangenen erleben, ich bin jetzt jemand mit dem liebevollen Blick auf den Menschen, der da sitzt und dem es schon meistens ziemlich schlecht geht.

Wie ist es, wenn eine Person das erste Mal in die Gruppe kommt?

Die Gefangenen sind immer individuell, also es ist nicht der Gefangene, sondern die sind alle unterschiedlich. Am Anfang verhält sich der neu in die Gruppe gekommene Mensch meist zurückhaltend, im besten Falle fühlt er sich wohl, kann Vertrauen zu mir und auch zu den Mitgefangenen knüpfen und kann einsteigen in die therapeutische Arbeit. Über das Malen, Zeichnen macht auch der eine oder andere eine Tür auf zu sich und kann über seine Ängste reden oder über seine Wünsche oder eine Hilfe äußern gegenüber den Mitgefangenen. Ich erkenne dann bei manchen Gefangenen, dass sie sich sehr wohl fühlen, wenn sie erleben, wie schön sie es finden, wenn sie jemandem helfen können, wenn sie schon länger dabei sind. Sie können sich dann einfühlen in den Neuankömmling und sich dann erinnern, wie sie selbst am Anfang waren, und die Fähigkeit bei sich erleben, jemandem helfen zu können, obwohl man doch der Böse ist, der Kriminelle, das ist auch eine tolle Erfahrung. Dann sind da noch die Altersunterschiede in der Gruppe. Die Älteren haben etwas Väterliches, können was Väterliches schenken, die Jüngeren können eher annehmen von einem Älteren. Also die Gruppendynamik ist sehr vielfältig.

Wie stellst Du eine Veränderung fest?

Ja, ich merke plötzlich, sie lassen ein Kleid fallen, man sieht den Menschen. Da war vorher so eine Mauer und plötzlich machen sie sich verletzlich und sprechen mehr, malen und gehen ins Risiko, zeichnerisch und malerisch. Dann ist es auch so, dass auch gerade solche irgendwann sagen, ok, ich brauch die Gruppe nicht mehr. Das ist dann auch erstaunlich, das merken sie dann auch selber, dass sie dann in so einem anderen Stadium sind und sie kommen viel besser zurecht als am Anfang. Wenn zu viel über das Delikt gesprochen wird, dann merke ich, dass es für die Menschen mehr bringt, wenn sie bei sich ankommen, bei ihrem Leben und darüber sprechen, wie soll es weitergehen, das persönliche Leben, Arbeit, Beziehung, Frau, Kinder. Es ist ja auch ein großes Leid dieses Wegeschlossensein von Familie, Kindern, Mütter, Väter, Brüdern, von Freunden. Und wenn sie über diese Gefühlsebene sprechen, wenn sie das nicht verschließen, wenn das Gefühlsleben auch da sein darf, dann sind die Menschen auch schon ein bisschen mehr weg vom Suizid. Ich glaube, das macht sonst auch krank.

© Foto: © Peter Milde

Welche Rolle spielt die Kunst dabei?

Die positive Rolle der Kunst sieht man total an den Bildern, z.B. wenn einer sich verschließt, sich nicht öffnet, niemand an sich rankommen lässt und sein Schild trägt: „Ich bin kriminell“. Das ist wie eine Rolle oder eine Rüstung, die sie anlassen, das sieht man an den Bildern. Und umgekehrt sieht man es den Bildern an, wenn sie sich einlassen auf die Aufgabenstellung. In manchen Bildern lassen sie auch ihre Wut raus oder sie kanalisieren dann die große Enttäuschung oder ihre Angst. Und selbst das ist gut im Kurs, ist richtig gut für deren Entwicklung. Es ist natürlich auch schlimm, das anzuschauen, aber ich hänge das trotzdem im Raum auf. Und da merke ich, der Mann kann jetzt in dem Moment was loslassen, aber das ist so ein riesen Ding, also ich meine, jetzt könnte eine Therapie einsetzen, jetzt könnte der Gefangene viel von seinen Problemen bearbeiten, doch wir konzentrieren uns auf die Krisenintervention und die Stabilisierung.

Es gibt auch Gefangene, die entdecken, dass sie eine kreative Ader haben, dass sie ruhig werden beim Zeichnen, Malen, das ist total schön im Kurs, wenn plötzlich alle still sind und malen, das ist wie ein heiliger Moment und dann das Lob anfängt: „Oh, wow, du kannst ja was, das sieht ja toll aus.“ „Guckt mal hier“, das sind dann auch ganz schöne Momente, wenn sie sich einlassen und entdecken, dass es sehr wohltuend ist, ein grün oder rot zu malen oder Muster zu erfinden. Wir haben in dem Kurs ja auch einen CD-Player und ich lege dann gerne in Anführungszeichen esoterische Musik auf, die entspannt und den Gefangenen hilft, in so eine Art von selbstvergessenem Zustand zu kommen und eine Stimmung kreiert, die wohlwollend und Mut machend ist. Die Ruhe und Sicherheit können sie dann vielleicht auch in ihren Gefängnisalltag mit ihren Mitgefangenen mitnehmen und sie kommen dann besser zu Recht mit sich selbst oder auch mit der Garstigkeit mancher Beamten, die da auch einen schweren Job machen.

Mit manchen Bildern verbinden sich die Männer sehr, sie wollen die Bilder dann gerne mitnehmen und das ist für mich natürlich eine gute Erfahrung, dann hab ich das gut gemacht und klopfe mir dann heimlich auf die Schulter. Aber es ist nicht immer der Fall, dass sie das mitnehmen, weil das ist dann auch ein bisschen mit Scham behaftet, wenn ein Mitgefangener so was sieht, dann denken sie „Weichei“ oder so. Also wenn sie richtig gut einsteigen in diese kreative Arbeit wird das auch manchmal, meistens im Kursraum gelassen und dann hänge ich die Bilder an die Wand und dann ist das ja eine tolle Sache. Ich bin ja Künstlerin und ich bin der Meinung, die Bilder haben ein Eigenleben und ein Eigenwesen und wenn die Bilder gesehen werden, die brauchen auch Applaus und Blicke und das wirkt dann auch auf den Macher, auf den, der das gemalt hat, zurück. Wir besprechen das dann auch manchmal, was wir gemalt haben, und vor allem, wenn ich morgens rein komme, sehe ich auch, was die Gefangenen mit meinen Kolleginnen gemacht habe und frage dann auch: „Wie ist denn das entstanden? Was war denn das Thema?“ Dann bekomme ich auch die Freude mit und was dem einzelnen Gefangenen gut gefällt.

Dann mach ich auch manchmal so Aufgaben, wo wir gemeinsam an einem Bild malen. Das mache ich sehr gerne. Ich versuche auch immer, dass jeder Gefangene mal daran teilhaben kann, dass ein Gemeinschaftsprodukt entsteht. Kurze Erklärung: Es liegt ein großes Blatt in der Mitte und wir malen alle schwarze Linien auf das Blatt und das ist dann ein Gewirr von Linien und später werden die Innenräume ausgemalt mit Farben, Mustern. Und jeder Gefangene darf in dem anderen Musterraum weiter malen oder darf da was verbessern. Also nach dem Motto: was der andere Mitgefangene tut ist gut, was kann ich damit anfangen, wertschätzen? Und was ich male, macht der andere nicht kaputt, sondern erweitert es. Das heißt, es entsteht ein Teppich aus wertschätzender Zusammenarbeit und das ist so Klasse, weil meistens was Tolles bei raus kommt.

Ich habe noch ein Wanderbildthema: Wir alle haben ein Din-A-4 Blatt vor uns und dann sag ich: „Wir alle fangen an und es wird rund und es wird von der Mitte her wachsen“. Immer wenn ich den Gong an die Klangschale schlage, gebe ich das Bild meinem Nachbarn und bekomme ein anderes Bild von meinem anderen Nachbarn und male weiter und es entsteht so etwas wie eine Blume und dann haben wir alle so eine schöne Rosette vor uns, wo alle Gefangenen mitgemacht haben und niemand hat das alleine gemacht. Das kann man auch als Metapher für diesen Kurs nehmen, dass was Schönes entsteht, zusammen. Es entsteht was Gutes, was Ruhiges, was nicht Kriminelles.

Wie gehst Du damit um, dass Du es in der Gruppe mit vermeintlichen Tätern zu tun hast?

Selbst derjenige, der jemanden ermordet hat, hat an diesem Morgen einen Anteil, der gut ist, der zuhören kann und der sich verletzlich zeigen kann und mit dieser Fähigkeit kann er seine Tat dann vielleicht einsehen – ach das ist zu viel gesagt – aber vielleicht anders damit umgehen und sich oder den anderen, als Mensch wahrnehmen. Wie auch immer, ja, die Gruppe hat etwas Heilendes.

© Foto: © Peter Milde

Was bedeutet für Dich der personzentrierte Ansatz von Carl Rogers?

Wichtig finde ich in der Gruppe das Zuhören und Wiederholen. Wie habe ich das verstanden, was der Andere sagt. Dem anderen Raum geben, sich auszudrücken und sich zu erfahren. Also ich meine, wenn ein Schicksal ganz schwer ist, ist zuerst einmal Zuhören angesagt. Ich kann keinen Rat geben. Ich kann Fragen stellen, dies ist manchmal aber auch nicht das Beste. Zuhören ist da manchmal das Einzige. Indem auch die anderen Gefangenen merken, dass man zuhören kann – also es gibt ja immer einen, der jetzt spricht und alle anderen hören zu – und dass derjenige merkt, dass es ein Geschenk ist, wenn er jetzt diese Aufmerksamkeit bekommt und ihm zugehört wird. Ja, das ist schon sehr schön, sehr wichtig. Das ist auch ein Lernstück, auch das Vergleichen, jedes Schicksal ist schwer.

Hat diese Arbeit Dich auch selbst verändert?

Ja, ganz am Anfang als ich nach der Gruppe aus dem Gefängnis wieder raus kam, bin ich gerannt, ich hatte ein Bedürfnis zu rennen. Das hat sich dann gelegt. Ich bin routinierter und versierter, den Drang zu rennen habe ich immer noch, einfach weil ich mir auch bewusst bin, ich bin frei und das ist ja auch eins der guten Sachen, bei so einer Arbeit, dass man sieht: mir geht’s gut, ich kann da weg. Durch die Erfahrungen, die man macht, besteht auch die Gefahr, Schubladen zu haben und zu sagen, das ist so ein Gefangener und das so einer. Ein Stück weit erlaube ich mir das auch, weil die Erfahrung mir hilft und ich mir dann sage, da könnte ich jetzt so etwas probieren oder so damit umzugehen. Aber auch die Erfahrung mit mir, wenn ich mich unwohl fühle, dann muss ich reagieren. Oder wenn ich ganz bewusst die Freude erlebe, wenn ich da hin gehe und neugierig bin – ja ich bin dann wirklich neugierig, wie es denen geht und da freue ich mich darüber.

Die Erfahrung mit der Zusammenarbeit mit den Kolleginnen ist wirklich schön. Wir sind alle davon überzeugt, dass das eine ganz, ganz wichtige Arbeit ist und man hat dann auch Wertschätzung für die Kolleginnen. Ich freue mich immer, was für tolle Sachen meine Kolleginnen machen oder wenn wir in der Supervision eine andere Facette von einem Gefangenen beleuchten und ich dann ein anderes Standing im Kurs habe, weil ich diese Seite jetzt auch noch weiß. Das ist sehr, sehr wohltuend. Also das ganze Konzept von unserer Krisenintervention, da gehört die Supervisionsstunde dazu, das ist ganz wichtig.

(Redigierte Auszüge aus dem Interview, das von Frau J. Schuhbaur im Rahmen ihrer Bachelorarbeit am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität im Dezember 2015 geführt wurde. Website von Eva Leitschuh: evaleitschuh.de).

© Foto: © Peter Milde

Zum Prozess der Veränderung in der Personzentrierten Krisenintervention mit suizidgefährdeten Gefangenen:

Wie und warum wirkt die personzentrierte Gruppenkrisenintervention?

(Auszug aus dem Vortrag auf dem Fachsymposium in Waldheim im April 2016)

Noch einige Worte zum Personzentrierten Konzept der Veränderung in der Gruppenkrisenintervention und Suizidprävention mit Gefangenen.

Die Ausgangssituation der personzentrierten Krisenintervention bei Gefangenen

Inkongruenzerleben meint, dass die Person die sie bedrückenden bis traumatischen Erfahrungen nicht mehr in ihr Selbstbild, in ihr Selbstkonzept integrieren kann. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen diesen belastenden Erfahrungen und dem Selbstkonzept der Person (Inkongruenz). Dies trifft auch zu auf Untersuchungsgefangene, die konfrontiert werden mit ihrer Tat / ihrem Tatvorwurf / ihrer Schuld und den sich daraus ergebenden Folgen und die konfrontiert werden mit der Übernahme der Verantwortung für ihr schuldhaftes und strafbares Verhalten gegenüber dem Opfer und der Scham gegenüber Angehörigen und Freunden.

Diese Erfahrungen können von der inhaftieren Person häufig nicht als ihr zugehörig wahrgenommen und akzeptiert werden. Die Person erlebt sich dann diesen Erfahrungen gegenüber entfremdet oder gar gespalten. Die Person verfügt über keine adäquaten Einstellungen und Verhaltensweisen, um mit diesen Erfahrungen konstruktiv umzugehen, d.h. die Person ist nicht in der Lage für sich Lösungen zu finden, wie sie mit diesen Erfahrungen und den mit ihnen verbunden Problemen umgehen könnte.

In dieser Situation reagiert die Person dann zum Schutz ihres Selbstkonzepts mit Abwehrverhalten: Verdrängung, Verschiebung, Abspaltung, Projektion … ihres Verhaltens, ihrer belastenden Erfahrungen und Gefühle.

Gelingt diese Abwehr nicht mehr, kommt es zum psychischen Zusammenbruch. Der psychische Zustand ist dann gekennzeichnet durch wenig Selbstvertrauen, wenig Selbstachtung, starke Verunsicherung, die Person fühlt sich überfordert und ohnmächtig, sie ist ohne Hoffnung und Zuversicht, aus ihrer Lage jemals wieder herauszukommen, sie leidet an inneren Spannungen, an diversen starken Ängsten, an Suizidgedanken oder gar an psychotischen Symptome.

Foto: © Peter Milde

Die destruktive Wirkung des Gefängnisses auf die Psyche, die Einstellungen und das Verhalten

Hinzu kommt noch, dass diese Menschen im Gefängnis die Regeln, Restriktionen und Repressionen zusätzlich als stark belastend und destruktiv erleben. Dies verschärft die suizidale Lebenskrise zusätzlich. Der Gefängnisalltag wirkt in vielfältiger Weise als Verstärker destruktiven Erlebens:

Die Reglementierung, Disziplinierung, Begrenzung des Lebensraums und die Zwangsgemeinschaft führen zum Verlust von Autonomie und von Selbstachtung.

Der Entzug von Vertrautem, der Verlust sexuellen Erlebens, das Erleben von Ohnmacht und Demütigung führt zu Deprivation und Vereinsamung.

Die Gewöhnung an die Gefängniskultur, die offizielle wie auch die Subkultur führt zu einer spezifischen Sozialisation (Prisonisation oder Prisonisierung).

Die Folgen sind:

Konditionierung im Sinne einer Anpassung an die in Gefängnissen üblichen Gebräuche, Abläufe und Vorschriften, Einüben gewünschter offizieller wie inoffizieller Hierarchien, Rollen und Verhaltens gegenüber Aufsehern und anderen Gefangenen.

Ca. 25 % der Insassen werden selbst Opfer im Gefängnis (bedroht, beleidigt, sexuell belästigt, verhöhnt, geschlagen, in kriminellen Machenschaften verstrickt).

Einengendes Erleben, diverse Ängste (Zukunftsängste, Ängste vor der ersten Begegnung mit Angehörigen, Ängste vor Mitgefangenen).

Wut und Aggressionen gegen sich und andere auf Grund des heraus gerissen Werdens aus den normalen Lebensumständen und Lebensbezügen.

Die Lebenssituation im Gefängnis führt zu Verunsicherung, Perspektivlosigkeit, Verzweiflung, Aussichtslosigkeit und Hilflosigkeit. Nicht zu wissen, wie man aus dieser Lage wieder herauskommen kann, verstärkt dieses Erleben.

Es entwickelt sich eine negative und ablehnende Haltung gegenüber den repressiven Institution, wie Gefängnis, Polizei und Justiz und den diese repräsentierenden Personen.

Die hilfreiche Methodik des personzentrierten Konzepts in der Gruppenkrisenintervention bei Gefangenen

Die zentrale Methodik des personzentrierten Konzepts ist das Aussprechen, Zuhören, Besprechen ohne Bewertung oder Verurteilung des Ausgesprochenen und Geschehenen. Diese akzeptierende Haltung der Therapeuten ermöglicht es dem Gefangenen im Verlauf des therapeutischen Prozesses, Zugang zu seinem Selbst zu finden, seine positiven und negativen Erfahrungen abzuwägen, seine Gefühle wahrzunehmen und über sein Verhalten und seine Einstellungen zu reflektieren.

In der therapeutischen Beziehung ist der Therapeut ein Begleiter. Er übt keinen Zwang aus, er gibt keine Lösung vor, er lässt sich von keinen Direktiven leiten. Der Gefangene gilt als Kenner seines Selbst, wenn dies auch verborgen, verschüttet ist.

Die Gruppe entfaltet in diesem Prozess des Selbsterkennens ihre eigene Dynamik, indem die Gruppe neue Formen der Kommunikation und des Erlebens ermöglicht, in denen die Gefangenen sich aufeinander beziehen, Verständnis, Solidarität und Hilfe erleben und geben können.

Die therapeutische Beziehung und die Gruppendynamik sind entscheidend dabei die Einengung des Selbst durch das Abwehrverhalten aufzulösen. Neue – auch unangenehme – Erfahrungen und Gefühle können zunehmend zugelassen und neue Horizonte eröffnet werden. Den gleichen Effekt haben die kreativen und kommunikativen Erfahrungen in der Kunst- und Spieltherapie. Diese Erfahrungen im therapeutischen Gruppenprozess machen so die Umkehr der Selbstabwertung und Selbstaggression möglich.

Im Verlauf ist dann nicht mehr das Reden zentral, sondern das positive Gestalten von Beziehungen und von kreativem Erleben setzt positive Anker für die Selbstentwicklung. Es kann wieder Selbstachtung und Selbstempathie erlebt und empfunden und psychische und kreative Ressourcen erkannt und entwickelt werden. Starre Selbstbilder und rigide Selbstkonzepte kommen in Fluss und eine dynamische Veränderung setzt sein. Zentrales Moment hierbei ist der Zugang zu und das Erleben der eigenen Gefühle und der Selbst-Erfahrung in der Gruppe, in der Kunsttherapie und in der Spieltherapie.

Foto: © Peter Milde

Die Momente und der Prozess der Veränderung:

Das Erleben der eigenen Kreativität, der neue Umgang mit kreativen Materialien und Mitteln öffnet eine neue Tür zu den Gefühlen und zum Erleben von Beziehungen – sowohl zum eigenen Selbst als auch zu anderen Personen.

Menschen, die dem Zusammenbruch nahe sind, die dabei sind, die Hoffnung und die Perspektive für ein weiteres Leben aufzugeben, finden in dieser für sie schier aussichtslosen Lage in der Kunsttherapie, wie im Erleben in der Gruppe wieder einen Halt im Erleben und Wahrnehmen ihrer Kreativität, ihrer positiven Gefühle, im Erkennen von Schönem und Wertvollem für ihr Leben. Im kunsttherapeutischen Erleben soll nicht vordergründig die Ästhetik stehen, sondern soll die Individualität zum Ausdruck kommen und damit die Tür zur Selbsterforschung öffnen: Freude wecken, sich neu, anders und schöpferisch ausdrücken und neu entdecken.

In der Gesprächsgruppe erfahren die Klienten Unterstützung und können anderen Hilfe geben, sie erfahren, wie Andere mit ihren Problemen umgehen, sie erleben Konflikte auszuhalten und auszutragen, sie üben sich im Zuhören, sie beziehen sich aufeinander, lernen zu reflektieren über sich und über Andere.

Das Spielen in der Therapie fördert die emotionale Entwicklung, ist ein wichtiger Faktor in der Entwicklung des Einzelnen in der Gruppe und im Erleben von Handlungs- und Beziehungserfahrungen. Zwischen Spiel und Realität besteht keine emotionale Diskrepanz. Das Spielen lässt Sorgen vergessen, vertreibt Langeweile und bringt Freude, Lust und Geborgenheit. Im Spiel werden Gefühle und Erfahrungen erlebt, wie sie im Leben unerlässlich sind.

Das Aufspüren der Inkongruenzen ist Gegenstand des therapeutischen Prozesses. Sie sollen dem Klienten erfahrbar werden. Im Unterschied zur Verhaltenstherapie oder der Psychoanalyse ist der Therapeut nicht derjenige, der dem Klienten den Weg des therapeutischen Prozesses vorgibt oder gar weiß, was das Ziel der Therapie ist. Das Vorgehen des Therapeuten ist non-direktiv, er bewertet nicht, er beurteilt nicht. Der Klient kann seine Gefühle, Einstellungen und sein Verhalten ohne Angst vor fremder Bewertung betrachten. Der Therapeut unterstützt ihn hierbei, indem er die Gefühle, Einstellungen, Wünsche, die er bei dem Klient wahrnimmt, die dem Klient aber auf Grund der Abwehr verborgen sind, mitteilt.

Für diesen therapeutischen Kontakt bedarf es folgender Bedingungen auf Seiten des Therapeuten:

Einfühlendes Verstehen = Empathie,

Bedingungslose positive Wertschätzung = Akzeptanz,

Echtheit = Kongruenz = Transparenz.

Beim Vorliegen dieser Bedingungen wird bei dem Klienten ein Prozess der Selbsterforschung und Selbstveränderung einsetzen. Das Abwehrverhalten gegen unangenehme und belastende Erfahrungen nimmt ab und neue Möglichkeiten des Handelns und der Einstellungen können erschlossen werden.

Im Ergebnis wird die Person offener für ihre Erfahrungen und damit wird Abwehrverhalten als Schutz weniger nötig und Entfremdung und Inkongruenzen nehmen ab. Der Gefangene wird zunehmend in die Lage versetzt, für sein Verhalten Verantwortung zu übernehmen und sich mit den Folgen seines Handelns auseinander zu setzen und somit sein Selbstbild verändern.

Im besten Falle werden Kongruenzerfahrungen möglich, auch die diversen belastenden Erfahrungen kann die Person nun in ihr Selbst integrieren und Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstwertschätzung nehmen zu. Am Ende werden neue Möglichkeiten des Handelns und der Einstellungen erschlossen und in der neuen Lebenslage des Inhaftierten kann er wieder Mut, Zuversicht, Perspektive und Lebenswille finden. Im Idealfall befindet sich sein Selbst dann im Zustand der Kongruenz.

5. April 2016 Dr. Peter Milde

(Auszug aus dem Vortrag auf dem Fachsymposium „Vollzug für das 21. Jahrhundert“ vom 4. – 6. April 2016 in Waldheim anlässlich des 300. Jahrestages des Bestehens der JVA Waldheim in Sachsen)

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