1. August 2020 – FIPS NEWS Nr. 21: Zu den antiklerikalen und antifeudalen Rebellionen im Hochmittelalter in Süd-, West- und Mitteleuropa – Teil 1
Editorial
Die Rebellionen gegen ungerechte soziale, ökonomische und politische Verhältnisse und gegen die sie rechtfertigende christliche Theologie und Kirche waren im Hochmittelalter in Europa und auch in den damaligen deutschen Ländern weit verbreitet. Aufgrund geschichtlicher Unkenntnis und Ignoranz werden die Klassenkämpfe und die organisierten politischen Revolten der armen Bevölkerung in den europäischen Ländern im Hochmittelalter heute jedoch häufig geleugnet.
Auch eine solche historische Perspektive bereichert den Ansatz personzentrierter Sozialpolitik unseres Newsletters, dessen Kern der Einsatz für die Interessen der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten ist.
In diesem Essay wird vorwiegend auf die Klassenkämpfe in Okzitanien im Hochmittelalter eingegangen, sie hatten Auswirkungen auf Italien, die Niederlande, England, die Schweiz und die damaligen deutschen Länder. Auf der Basis der ökonomischen und sozialen Ausbeutung und Unterdrückung der armen Klassen und Schichten entstanden im Hochmittelalter in den Städten dieser Länder sowie auf dem Land eigenständige Bewegungen und Aufstände gegen die christlich-feudale und christlich-aristokratische Ausbeutung und Unterdrückung. Dieser setzten die antifeudalen und antikatholischen Protestbewegungen und Rebellionen damals urchristliche religiöse Ideen und Vorstellungen gegenüber. Durch die Jahrhunderte lange Vorherrschaft christlicher Theologie in Europa, konnte es kaum eine nicht-christliche Befreiungsideologie geben. Heute jedoch verfolgen religiöse politische Bewegungen keine fortschrittlichen, sondern reaktionäre Ziele.
Die Berufung auf die christlichen Werte und Traditionen in der heutigen politischen Diskussion in Deutschland erscheint angesichts der Geschichte des Christentums in vielfacher Hinsicht als fragwürdig. Hierzu gehören auch der christliche Antijudaismus und die christlich begründeten Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, Bürgerkriege, Inquisition und Hexenverfolgungen, die sich gegen die sogenannten ketzerischen Bewegungen der armen und ausgebeuteten Klassen und Schichten der Bevölkerung und insbesondere gegen Frauen richteten, die gegen das christlich legitimierte Patriarchat kämpften.
18.6.2020 Dr. Peter Milde
„Jene sagen, die Welt müsse sich erneuern,
ich sage, sie muss zugrunde gehen!“
(Giovanni delle Celle, italienischer Mönch, Mitte des 13. Jahrhunderts) 1
1 Zitiert nach: Arnold E. Berger: Die Kulturaufgaben der Reformation, 1908, Berlin: Ernst Hofmann & Co., S. 317.
Zu den antiklerikalen und antifeudalen Rebellionen im Hochmittelalter in Süd-, West- und Mitteleuropa – Teil 1
Gliederung:
- Zu den sozialen Revolten im Hochmittelalter und ihr Verhältnis zur christlichen Ideologie und Kirche
- Zu den Kämpfen der Klassen und Schichten im Hochmittelalter
- Zu den sozialen, ökonomischen und politischen Gegensätzen zwischen dem Süden und Norden Frankreichs
- Zur revolutionären Bewegung der Waldenser und Katharer/Albigenser
- Zur gewaltsamen Niederschlagung der Waldenser und Katharer/Albigenser
- Zu weiteren Rebellionen der plebejischen und bäuerlichen Bevölkerung in vielen Ländern Europas
1. Zu den sozialen Revolten im Hochmittelalter und ihr Verhältnis zur christlichen Ideologie und Kirche
Die revolutionäre Bewegung breiter Massen der werktätigen Bevölkerung auf dem Land und in den Städten richtete sich nicht nur gegen die weltliche staatliche Macht der Aristokraten und Feudalherren, die sich über das Christentum legitimierte, sondern auch direkt gegen die mit der weltlichen feudal-aristokratischen Macht eng verwobenen mächtigen Repräsentanten der christlich-römischen Kirche. Dennoch waren die Kämpfenden geleitet von der Idee einer gottgefälligen gerechten christlichen sozialen Ordnung, die das Ideal des apostolischen Lebens verwirklichen sollte
Aber warum bedienten sich im Mittelalter die Bewegungen der unterdrückten und ausgebeuteten Massen in ihren sozialen und politischen Kämpfen gegen die herrschenden Ausbeuterklassen zur Legitimation ihres Aufbegehrens überhaupt christlicher Ideen und Ideologien? Wie ist dieses Paradoxon zu verstehen?
Die christlich-römische Kirche legitimierte die weltliche und geistliche Herrschaft mit der Lehre des Neuen Testaments und den Lehren der vier großen frühen Kirchenlehrer [Ambrosius von Mailand (340-397 n.u.Z.), Hieronymus (347-420 n.u.Z), Augustinus von Hippo (354-430 n.u.Z.) und Papst Gregor der Große (540-604 n.u.Z.)], die die Transformation der christlichen Religion in die christlich-römische Staatsreligion begleiteten.1
Die christlich-römische Staatskirche mit ihren feudal-aristokratischen kirchlichen Repräsentanten konnte den Übergang von der sich in Auflösung befindlichen römischen Sklavenhaltergesellschaft und des zerfallenden römischen Reiches in die feudale Gesellschaft und in die feudal-aristokratische politische Ordnung am besten sichern. Die kirchlichen Repräsentanten stellten im frühen Mittelalter dann auch zugleich einen Teil der weltlichen Repräsentanten – und umgekehrt nahmen weltliche Repräsentanten Positionen in der Kirchenhierarchie ein.
Mittelalterliches Ständebild (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts), Buchmalerei, entworfen im Auftrag der Kirche, gemeinfrei, Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A4ndeordnung#/media/
Die christlich römische Kirche rechtfertigte im Mittelalter das ausschweifende Leben der herrschenden Aristokratenklasse und ihrer eigenen Kirchen-Eliten (vom Papst über die Bischöfe, Äbte bis zu den Mönchen und Pfaffen) mit der katholisch-christlichen Theologie. Die christlich-römische Lehre rechtfertigte jedoch nicht nur den auf der Ausbeutung der leibeigenen Bauern begründeten Reichtum der weltlichen Aristokraten und Kirchenfürsten, sondern stellte auch die Armut und das Elend der armen Klassen und Schichten in der Stadt und auf dem Land als gerecht und gottgewollt dar.
Die römisch-christliche Religion war damals die Ideologie der herrschenden Klassen, der weltlichen und geistlichen Aristokraten und Feudalherren. Wer sich gegen diese gesellschaftlich Mächtigen auflehnte, konnte daher auch die römisch-christliche Religion nicht gutheißen, da die rebellischen Massen ja auch in ihrem Namen und von ihr bekämpft wurden.
Jedoch war im europäischen Hochmittelalter das Christentum die das gesamte gesellschaftliche Leben und Denken der Bevölkerung dominierende Ideologie. Das einzige moralische und soziale Konzept, von dem die breiten Massen der werktätigen Bevölkerung wussten, waren die christlichen Lehren aus dem Alten und Neuen Testament, mit denen sie seit Jahrhunderten im christlichen Glauben erzogen wurden und sie hatten die christlichen Traditionen, Gewohnheiten, Hoffnungen, Gefühls- und Denkmuster tief verinnerlicht und von Generation zu Generation weitergegeben. Die Menschen kannten außer diesen religiös-christlichen Heilslehren, keine anderen, Veränderung und Erlösung aus ihrer Armut und ihrem Elend versprechenden Ideologien.
Deshalb bezogen sich die gegen die christlich-aristokratisch-feudale Gesellschaftsordnung rebellierenden Massen auf frühchristliche, religiöse und soziale Ideen und Lehren der frühchristlichen Gemeinschaften, die von der Gleichheit aller Menschen ausgingen und daher soziale Ungleichheit und Ausbeutung ablehnten. Die Durchsetzung dieser frühchristlichen Lehren in der Gesellschaft sollte die himmlische göttliche Gerechtigkeit auch auf Erden zum Ziel haben.2 Die römisch-katholische Kirche war den rebellierenden Massen daher verhasst und ihr Protest und Aufstand richtete sich häufig zuerst gegen die feudal-aristokratischen Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche. Der Kampf der Klassen im Hochmittelalter fand also auf dem ideologischen Boden des Christentums statt – allerdings trafen hier ganz unterschiedliche Interpretationen und Auslegungen aufeinander.
2. Zu den Kämpfen der Klassen im Hochmittelalter
Die technische und ökonomische Entwicklung im Hochmittelalter hatte in den Städten neben dem Zunfthandwerk auch zur Entstehung fabrikmäßiger industrieller Produktionsverhältnisse geführt.3 Ein Handels- und Fabrikbürgertum entstand, dass die Ausdehnung des freien Marktes in allen ökonomischen Bereichen forderte und sich damit auch politisch gegen die weltlichen und geistlichen Feudalherren, Aristokraten und Bischöfe positionierte und den alteingesessenen aristokratischen Patrizierfamilien in den Städten die politische Macht streitig machte.
Das Handelsbürgertum, die Handwerker und die Arbeiter nutzten den Kampf zwischen den zentralen Mächten (Kaiser, bzw. König) und den Fürstentümern sowie die gewaltsam ausgetragene Konkurrenz unter den Fürstentümern aus, für ihren eigenen Kampf um Unabhängigkeit der Städte von den feudal-aristokratischen Fürsten und Bischöfen. In Südfrankreich etwa erhielten einige Städte – darunter Nizza und Avignon – Sonderrechte. In Arles und Marseille gründeten die vom Bürgertum angeführten städtischen Klassen und Schichten (im Wesentlichen das Bürgertum, das Zunfthandwerk, die Lohnarbeiter und Tagelöhner) freie Republiken. Auch in Norditalien, Holland, England und etwas später auch in Deutschland entwickelte sich in den Städten das Bürgertum zur sozialen, ökonomischen und zunehmend auch politisch herrschenden Klasse, dessen wirtschaftliche Betätigung neben dem überregionalen Handel zunehmend auch eine industriell-fabrikmäßige Produktion umfasste. Die mit der Zunahme der bürgerlichen Marktwirtschaft einhergehende Bedeutung des Geldes untergrub die feudale Ökonomie und die ihr entsprechende soziale Gliederung.4 In den Städten entwickelte sich neben den Handwerkern auch ein industrielles Proletariat. Beide wurden von den reichen Patrizierfamilien und dem neuen Großbürgertum ökonomisch ausgebeutet und von der politischen Macht in den Städten ausgeschlossen.
Auch die bäuerliche Landbevölkerung litt immer mehr unter den feudalen Lasten und Abgaben, die sie den adligen und klerikalen Grundherren schuldete und denen sie in allen sozialen, juristischen und politischen Angelegenheiten völlig ausgeliefert war.
Für die breiten Massen waren die herrschenden Feudalklassen der Aristokratie und der christlichen Kirche längst nicht mehr „christlich“. „Christliche Moral“ im Sinne der christlich-päpstlichen Kirche Roms geriet immer mehr in Widerspruch und Gegensatz zum Leben der breiten Massen des Volkes, ihren Nöten und ihren moralischen Vorstellungen von einem gerechten und rechtschaffenen Leben.
Insbesondere der Reichtum der christlichen Kirche und ihrer spezifischen feudal-hierarchischen Machteliten und die personelle Verknüpfung der christlichen Kirche mit der feudal-aristokratischen Staatsmacht, die beide vorwiegend auf der feudalen Ausbeutung der breiten Masse der Bevölkerung basierten und den einfachen Leuten im Dorf und in der Stadt mit Machtmissbrauch, Missachtung, Überheblichkeit und Verachtung gegenübertraten, führten ab dem 11. Jahrhundert zu religiösen Erneuerungsbewegungen, die sich auf „urchristliche“ moralische Werte besannen und das ökonomische und soziale Ausbeutungs- und Herrschaftssystem der feudalen weltlichen und geistlichen Herrscher und die sie rechtfertigende christlich-katholische Religion und Kirche ablehnten und bekämpften.
Diese religiösen Erneuerungsbewegungen (wie die Waldenser und Katharer, auf die im Folgenden näher eingegangen wird) bekämpften nicht nur die Auswüchse der feudalen herrschenden Klassen, den Luxus, die Korruption, den Betrug, Raub und die Gewalt, sondern sie griffen die Grundlage der feudalen, aristokratischen Herrschaft und Ausbeutung direkt an. Darüber hinaus lehnte der plebejische Teil der Bewegungen den Reichtum und das private Eigentum vom Standpunkt der urchristlich-kommunistischen Lebensweise ab.5
Südfrankreich wurde im Hochmittelalter zu einem geographischen Raum, in dem sich die sozialen Bewegungen der unteren plebejischen und bäuerlichen gesellschaftlichen Klassen und Schichten gegen die feudale Ordnung ausbreitete. Ihnen schloss sich häufig ein Teil des Bürgertums der Städte und des niederen Adels an. Etwa zur gleichen Zeit entstanden ähnliche antifeudale und antiklerikale Bewegungen auch in anderen Regionen und Städten West-, Mittel- und Südeuropas.6
3. Zu den sozialen, ökonomischen und politischen Gegensätzen zwischen dem Süden und Norden Frankreichs
Warum sich die rebellische antifeudale Bewegung gerade in Südfrankreich stark entwickeln konnte, liegt auch in der historischen Entwicklung der Gesellschaft Südfrankreichs begründet. Südfrankreich nahm von alters her u.a. auf Grund seiner geographischen Lage, seiner städtischen Besiedelung und seiner ökonomischen Bedeutung im westlichen Mittelmeerraum mit der Hafenstadt Marseille als Umschlagplatz für Waren und als Handelsweg nach dem Norden und Osten eine wichtige Rolle weit über die eigenen geographischen Grenzen hinaus ein.
Durch diese Besonderheiten war der Süden Frankreichs Schauplatz verschiedener Beherrschungen durch Griechen, Römer und Araber und damit auch verschiedener kultureller und ökonomischer Einflüsse. Hier sollen nur einige Hinweise auf die Wurzeln der eigenständigen ethischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Entwicklung des Südens Frankreichs skizzenhaft genannt werden:
Berühmt sind die Höhlen nördlich von Bordeaux und nördlich der Pyrenäen mit ihren einzigartigen Wandmalereien, die Zeugnis geben von einer hier bereits in der Altsteinzeit (zwischen 20.000 bis 10.000 Jahren v.u.Z.) entwickelten hohen Kultur.7
Aus der Bronzezeit (etwa zwischen 1.800 bis 1.000 v.u.Z.) fand man Gräber mit gewaltigen Steinplatten, etwa in der Nähe der Abteil Montmajour und in Buioux südlich von Apt. Im ersten Jahrhundert v.u.Z. wurde Südfrankreich von drei Stämmen bevölkert: In den Pyrenäen von den Iberern, an der Südostküste von den Ligurern und im Languedoc von den Phöniziern.
Bereits im Jahre 599 v.u.Z. gründeten die Griechen im Zuge ihrer Kolonisation im gesamten Mittelmeerraum auch an der französischen Mittelmeerküste erste große Handelsniederlassungen. Von den Griechen wurde auch Marseille (Massalia) als Handelsniederlassung gegründet. Die Griechen brachten neben ihrer Kultur auch wichtige Veränderungen in der Ökonomie mit. Sie machten den Oliven- und Weinanbau im Süden Frankreichs heimisch. Und mit dem griechischen Handel fand die bis dahin unbekannte Geldwirtschaft und die Handelsaristokratie hier ihren Einzug. Zwischen dem von den Griechen dominierten Süden und dem aus dem Norden einströmenden Kelten kam es seit dem 5. Jh. v.u.Z. immer wieder zu schweren Kämpfen.
Das römische Reich, das sich bereits auf die Iberische Halbinsel ausgedehnt hatte, drang ab 154 v.u.Z. von Spanien aus in das Roussillon vor und besetzte von Italien her nach und nach immer weitere Teile der südfranzösischen Mittelmeerküste, da die Landverbindung von Spanien nach Italien für die Römer von großer ökonomischer, politischer und militärischer Bedeutung war. Ab 120 v.u.Z. waren die Römer die neuen Herrscher in der Provence, im Languedoc und im Roussillon – ein Gebiet, das die Römer verwaltungsmäßig, militärisch und wirtschaftlich zu einer römischen Provinz (Provence) mit Narbonne als Hauptstadt machten. Die Römer gründeten meist dort, wo sie ihre Truppen in Lager stationierten, Städte, z.B. Aix-en-Provence. Andere bereits bestehende Städte, wie Arles, Avignon und Orange entwickelten sich unter der römischen Besatzung und erhielten ein romanisches soziales und kulturelles Gepräge. Die Römer legten ein Netz von Straßen an, das sowohl für das römische Militär als auch für den römischen Handel wichtig war. Die Via Domitiana war z.B. die wichtigste Handelsroute von Nimes aus in Richtung Alpen und wurde damit zu einer wichtigen Nord-Süd-Route. Diese Handelsrouten waren zugleich auch wichtige Heerstraßen für das römische Militär. Im Jahre 102 v.u.Z. griffen die Stämme der Kimbern und Teutonen die römischen Truppen in Südfrankreich an, allerdings wurden unter dem Konsul Marius erst die Teutonen bei Aquae Setiae (dem heutigen Aix) und die Kimbern 101 v.u.Z. bei Vercellae vernichtend geschlagen.
Erst während des großen Ansturms der verschiedenen Stämme in der Zeit von 375 – 568 n.u.Z. gegen das römische Reich wurden die Römer aus Südfrankreich zurückgedrängt. Im Jahre 419 n.u.Z. hatten die Westgoten Gallien erobert und im 5. Jahrhundert besiedelten die Burgunder Südfrankreich. Der Hauptsiedlungsbereich der Goten war jedoch der Norden Frankreichs und erst im 6. Jh. n.u.Z. wird der Süden in das übermächtige Frankreich eingegliedert.
Die von Spanien nach Südfrankreich eindringenden Araber dehnten ihren Einfluss und ihre Macht über das Roussillon bis in die Provence aus und wurden erst 80 Jahre später unter Karl Martel bei Poitiers vernichtend geschlagen.
Das fränkische Reich Karl des Großen wird 843 n.u.Z. zwischen dessen Söhnen geteilt. Der größte Teil Südfrankreichs fiel an Karl den Kahlen und das Roussillon an Katalonien. Nach dem Tode Karl des Kahlen nahm die ökonomische Macht der Feudalherren und ihr politischer Anspruch immer mehr zu, das Reich zerfiel und es entstanden zahlreiche kleine Fürstentümer.
So entwickelte sich im Süden im Unterschied zum Norden Frankreichs, der von Stämmen der Franken erobert und später von den Karolingern beherrscht wurde, die okzitanische Kultur und Sprache, die sich von der im Norden deutlich unterschied und vorwiegend romanische Wurzeln (im Vulgärlatein, dem Volkslatein im Unterschied zur lateinischen Schriftsprache) hatte.
Karte des historischen okzitanischen Sprachraums. Wichtigste Städte sind Lemòtges/Limoges, Bordèu/Bordeaux, Tolosa/Toulouse, Marselha/Marseille und Niça/Nice sowie das nicht verzeichnete Montpelhièr/Montpellier. CC BY-SA 3.0, gemeinfrei, Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Okzitanien_(historische_Region).
Die Agrarwirtschaft im Süden Frankreichs war zu Beginn des Hochmittelalter sozial und ökonomisch zurück geblieben. Die Masse der Bevölkerung auf dem Land lebte in großer Armut und feudaler Unterdrückung. In den Alpentälern existierten sogar noch vor-feudale, patriarchalische Verhältnisse unter der bäuerlichen Bevölkerung. In den Städten im Süden Frankreichs und im Norden Italiens jedoch war die sozial-ökonomische Entwicklung fortgeschritten. Die Städte dort erlebten im Gegensatz zu denen in den deutschen Ländern einen ökonomischen Aufschwung und sozialen Wandel. Nachdem der Handel mit dem Nahen und Mittleren Osten sich vom östlichen in das westliche Mittelmeer verlagerte, gelangte das Bürgertum in den Städten Norditaliens und Südfrankreichs zu Reichtum sowie zu gesellschaftlichem und politischem Einfluss. Damit einher gehend entwickelte sich das Handwerk und ein städtisches Proletariat.
Neben dem Handelsbürgertum entwickelte sich nun in den Städten auch ein industrielles Bürgertum mit einer auf Lohnarbeit beruhenden industriell-fabrikmäßigen Produktion (z.B. Textilfabrikation, Färbereien). Jedoch ging es den Tagelöhnern und Arbeitern in den Städten kaum besser als den Bauern auf dem Land. Die Städte wurden zu einem Hort der bürgerlichen und plebejischen Opposition gegen Feudalismus und die feudale Geistlichkeit. Innerhalb dieser antifeudalen Protestbewegung stellten die proletarischen Klassen häufig bereits ihre eigenen, antibürgerlichen Forderungen auf.
Im Süden Frankreichs existierte zudem keine starke zentrale Macht, da die angrenzenden Fürstentümer den Süden Frankreichs dominierten. Die niedere Aristokratie war daher auch geneigt, sich den oppositionellen Bewegungen anzuschließen um so ihre Eigenständigkeit zu behaupten.
18. Juni 2020 Dr. Peter Milde
(Fortsetzung des Essays und die Angabe zur verwendeten Literatur in FIPS-NEWS Nr. 22 im September 2020).
Endnoten:
1 Um den Religionsfrieden im römischen Reich herzustellen, versammelte Kaiser Konstantin I. mehr als 300 Kirchenführer am 19. Juni 325 n.u.Z. auf dem Konzil von Nicäa. Er stimmte dort einem Kompromiss zu, der die Wesenseinheit von Gott und Jesus beinhaltete. Damit endeten die Christenverfolgungen. Am 27. Februar 380 unterzeichnete der oströmische Kaiser Theodosius I. (347-395) in Thessaloniki das Dekret „Cunctos populos“ mit dem das Christentum zur Staatsreligion im gesamten römischen Reich erklärt wurde. Der weströmische Kaiser Valentinian II. (371-392) und dessen mitregierender Halbbruder Gratian (359-383) waren bei der Unterzeichnung anwesend und erkannten das Dekret an. Dieses Dekret begründete die Sonderstellung des Christentums in Europa und zugleich verkündete es die Verfolgung und Vernichtung der Andersgläubigen:
„Alle Völker, über die wir ein mildes und maßvolles Regiment führen, sollen sich, (…) zu der Religion bekehren, die der göttliche Apostel Petrus den Römern überliefert hat, (…). Das bedeutet, dass wir gemäß apostolischer Weisung und evangelischer Lehre eine Gottheit des Vaters, des Sohnes und Heiligen Geistes in gleicher Majestät und heiliger Dreifaltigkeit glauben. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen (…) katholische Christen heißen dürfen. Die übrigen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen. Auch dürfen ihre Versammlungsstätten nicht als Kirchen bezeichnet werden. Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden ist.“ (zitiert nach: Matthias von Hellfeld: Christentum wird zur Staatsreligion im römischen Reich – 27.2.380, in: Deutsche Welle im Internet, https://www.dw.com/de/christentum-wird-zur-staatsreligion-im-römischen-reich-27-februar-380/a-3840155).
2 Im Unterschied zu der von den dogmatischen Kirchenvätern aus dem Urchristentum transformierten römisch-katholischen Kirche, die die Unterwerfung und den Gehorsam gegenüber den Herrschenden forderte und das Paradies im Himmel nach dem Tode versprach, verband das Urchristentum – ähnlich wie andere damalige religiöse Strömungen innerhalb des sich durch innere und äußere Krisen ausdifferenzierenden Judentums – mit der Vorstellung vom Erscheinen des Messias auch die Erwartung an das Anbrechen eines Zeitalters des Friedens, Glücks und der Teilhabe am Wohlstand. Judentum und Urchristentum teilten das Aufbegehren gegen die Brutalität und Grausamkeit der politisch Herrschenden im römischen Reich und gegen das Elend der breiten Massen, die als Sklaven, proletarisierte Tagelöhner oder abhängige Bauern in der durch Privat- oder Staatsbesitz an Grund und an Produktionsmitteln und durch Warenwirtschaft (Geldsystem) bestimmten Ökonomie dahinvegetierten. Sie praktizierten ihren Glauben illegal und wo möglich legal in gemeinschaftlich, kommunistisch organisierten Gemeinden. Ihren in den Gemeinden gelebten urchristlichen Kommunismus verstanden sie als Gegenentwurf gegen die herrschende, auf Sklaverei, früh-proletarischer Ausbeutung, bürgerlichem Handel und auf Privateigentum basierende Gesellschaftsordnung.
3 Tucharbeiter (Weber, Walker, Färber, usw.) arbeiteten in der Wende zum 14. Jahrhundert etwa in Flandern, Florenz und Siena in Fabriken mit bis zu 4.000 Tagelöhnern bereits industriell für den Export für reiche Kaufleute.
4 „Denn je mehr im Zeitalter der Geldwirtschaft die Gegensätze von Reich und Arm sich schieden, der Unterschied der Besitzverhältnisse im städtischen Zusammenleben sich aufdrängte, der Klassenhass wuchs, die kleinen Leute dem Übergewicht des Kapitals erlagen und ein Proletariat allmählich großgezogen wurde, und je mehr anderseits die neue geldwirtschaftliche Kultur einen ansteckenden Geist der Wagelust, des Wettkampfes und des Sichemporringens erzeugte, welcher Stimmungen der Unzufriedenheit rasch verbreitete, umso mehr musste jenes Schlagwort vom apostolischen Leben die Massen aufreizen und den alten Hass gegen die Kirche und ihre Reichtümer zur Flamme entfachen helfen.“ (Arnold E. Berger, S. 310).
5 „ (…) wir (finden) schon im zwölften Jahrhundert die Vorläufer des großen Gegensatzes zwischen bürgerlicher und bäurisch-plebejischer Opposition, an dem der Bauernkrieg zugrunde ging. Dieser Gegensatz zieht sich durchs ganze spätere Mittelalter. (…) die bürgerliche Ketzerei (forderte) Herstellung der urchristlichen einfachen Kirchenverfassung und Aufhebung des exklusiven Priesterstandes. (…) Einen ganz verschiedenen Charakter hatte die Ketzerei, die der direkte Ausdruck der bäurischen und plebejischen Bedürfnisse war und sich fast immer an einen Aufstand anschloss. Sie teilte zwar alle Forderungen der bürgerlichen Ketzerei in betreff der Pfaffen, des Papsttums und der Herstellung der urchristlichen Kirchenverfassung, aber sie ging zugleich unendlich weiter. Sie verlangte die Herstellung des urchristlichen Gleichheitsverhältnisses unter den Mitgliedern der Gemeinde. (Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, 1850, nach: 1960, Berlin: Dietz Verlag, MEW 7, S. 344).
6 „Den Handelsstraßen folgend eroberte diese Sektenreligion Italien, Spanien, Frankreich, Flandern und die Kölner Diözese, und im 12. Jahrhundert war das Katharertum bereits eine gewaltige Macht geworden, mit der die Kirche notwendig abrechnen musste, und die der Anlass zu der systematischen Ausbildung ihrer Ketzerbekämpfung wurde. (…) Trotzdem nahmen die Katharer von Italien und Frankreich immer mehr Besitz, gewannen auch in Deutschland und England Boden. Um 1180 trug eine zweite Welle die waldensische Propaganda empor, welche, von Lyon ausgehend, sich über Frankreich, Spanien und Oberitalien verbreitete, sich in einen Lyoneser und einen lombardischen Zweig schied, im Süden und Westen Deutschlands immer fester Fuß fasste und im 14. und 15. Jahrhundert auch das mittlere und nördliche Deutschland überziehend ihre Ausläufer schließlich bis nach Preußen, Polen, Schlesien, Ungarn und Galizien streckte.“ (Arnold E. Berger, S. 302-303).
7 In den Wandmalereien finden sich u.a. Darstellungen von Bisons, Hirschen, Wildpferden, Mammuts. Einige Wandmalereien wurden auf Grund der Zeichnung dreier paralleler Linien/Pfeile als Darstellung von Jagdszenen interpretiert. Dieses Symbol steht jedoch nicht für die Jagd, wie patriarchale Wissenschaftler meinen, sondern war ein Symbol für die Achtung des Lebens, der Natur und der Frauen, die als Gebärende neuen Lebens in den matriarchalischen Gesellschaften verehrt wurden.