Demonstration am 20.8.2020 in Hanau 6 Monate nach dem rassistischen Anschlag: Erinnerung – Gerechtigkeit – Aufklärung – Konsequenzen!

Wilde Rose e.V. und FIPS unterstützen die Demo am 22.8.20 um 13 Uhr in Hanau-Kesselstadt vom Kurt-Schumacher-Platz zum Freiheitsplatz

1.

Sechs Monate nach dem 19.2.20: Erinnerung – Gerechtigkeit – Aufklärung – Konsequenzen !

Aufruf der Hinterbliebenen zur Demonstration und Kundgebung
Samstag, 22.8. 2020 um 13 Uhr
/ Hanau-Kesselstadt vom Kurt-Schumacher-Platz zum Freiheitsplatz

Am 19. August wird es sechs Monate her sein, dass ein Rassist mit seinen tödlichen Schüssen unsere Herzen gebrochen und unsere Leben, unsere Familien und unsere Stadt zerrüttet hat. Wir alle werden niemals so leben wie zuvor und nichts und niemand kann wiedergutmachen, was geschehen ist. Niemand kann Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan, Mercedes, Vili, Nesar, Hamza und Sedat ins Leben zurückrufen.

Wir, die Angehörigen der Opfer; die Überlebenden und Betroffenen; das Institut für Toleranz und Zivilcourage – 19. Februar Hanau e.V. und die Initiative 19. Februar Hanau rufen gemeinsam zur Demonstration und zum Gedenken auf: In Hanau am 22.8.2020, dem Samstag nach dem 19. August.

Wir erfahren nach und nach, was vor dem 19. Februar passierte, welche Warnungen nicht ernst genommen wurden und dass viele Polizisten – vor allem in Kesselstadt – seit Jahren lieber unsere Kinder und Freunde schikanieren, statt ihrer Pflicht nachzukommen, Nazis die Waffen wegzunehmen und für die Sicherheit für jeden zu sorgen. Ja, wir erfahren, dass sich hier niemand um den Schutz von jungen Menschen sorgt, die eine Migrationsgeschichte haben.

Wir recherchieren und ermitteln selbst. Jeden Tag. Wir rekonstruieren nicht nur die Tatnacht, sondern auch die Jahre davor und finden immer mehr behördliches Versagen. Offene Fragen werden nicht beantwortet und wir erleben die blinden Flecken im sogenannten sozialen Rechtsstaat.

Wir kämpfen seit jenem Tag. Und wir werden nicht aufhören. Denn in den letzten 5 Monaten wurde viel versprochen und wenig geliefert. Wir lassen uns nicht stumm stellen und wir geben uns mit Beileidsbekundungen und warmen Worten nicht zufrieden. Der Rassismus ist nicht verschwunden, nur weil Politiker dieses Mal das Problem nicht mit Schweigen, sondern mit Reden unter den Teppich gekehrt haben.

Unsere Frage an die Politik und die Behörden: Worauf wartet ihr eigentlich, wenn nicht auf den nächsten Anschlag?

Heutzutage ist es bereits ein Erfolg, dass die Tat als das anerkannt wird, was sie war: Purer Rassismus. Kein verwirrter Einzeltäter. Wie viele Hinterbliebene mussten selbst Jahrzehnte um diese Benennung kämpfen! Doch das reicht uns nicht. Wir wollen Taten sehen. Wir wollen, dass Hanau keine Station von vielen ist, sondern die Endstation. Wir sagen ein halbes Jahr danach: Es muss sich endlich nicht nur etwas, sondern vieles in diesem Land ändern.

Wir fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat des 19. Februar 2020.

Warum wurden diese Morde nicht verhindert? Wir fordern Antworten auf unsere Fragen und dass diejenigen Beamten, die nicht nur in der Tatnacht, sondern all die Jahre davor bereits versagt und die Warnsignale ignoriert haben, beim Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen werden.

Wir fordern politische Konsequenzen.

Die Verschärfung des Waffengesetzes ändert nichts, wenn es immer noch Beamte gibt, die ihrem Job nicht nachkommen und Rassisten die Waffenscheine ausstellen. Wir fordern eine Entnazifizierung des Bundestags, der Behörden und Institutionen und die Entwaffnung aller Rassisten in diesem Land.

Wir fordern den Rücktritt des Hessischen Innenministers Beuth, dem das Versagen der Behörden vor, während und nach dem 19. Februar 2020 bewusst und bekannt war, und der es bis heute immer noch schön redet.

Wir fordern den Rücktritt aller Verantwortlichen, die lebensbedrohliche Informationen und Warnsignale für jede Form von terroristischen Anschlägen ignorieren oder verschweigen.

Wir fordern Gerechtigkeit und Unterstützung.

Dass das Leid der Familien ernst genommen wird. Dass durch Taten und nicht nur Worte oder Kränze gezeigt, ja bewiesen wird, dass dieser Anschlag und dass Rassismus und Rechtsextremismus in diesem Land nicht geduldet, toleriert und akzeptiert werden.

Dass alles Erdenkliche dafür getan wird, den Familien weitere Sorgen zu ersparen und ihnen ihren zerrütteten Alltag und ihre Zukunft zu erleichtern, so gut es geht – psychosozial und finanziell.

Wir fordern ein angemessenes Erinnern.

Ein Denkmal an unsere neun Verlorenen – zentral – sichtbar und vor allem spürbar für alle. Die Thematisierung des rechtsextremen Attentats des 19. Februar 2020 und die Aufrechterhaltung der Erinnerung an sie in allen Bildungsinstitutionen.

Wir haben uns ein Versprechen gegeben: Nie zu vergessen und nie zu vergeben. Solange nicht lückenlos aufgeklärt wird, solange nicht endlich Konsequenzen gezogen werden und es Gerechtigkeit gibt, solange werden wir nicht aufhören zu kämpfen. Denn wer sich mit Hanau angelegt hat, hat sich mit der falschen Stadt angelegt. Wir werden keine Ruhe geben.

Hanau am 19. Juli 2020

(Quelle: https://19feb-hanau.org/2020/07/19/sechs-monate/)

2.

Cetin Gültekin, der Bruder eines Opfers äußert sich dazu, warum die Hinterbliebenen zu einer Demonstration aufrufen:

taz: Herr Gültekin, die Hinterbliebenen des Anschlags vom 19. Februar rufen zu einer Demonstration auf, weil die Polizei „Warnsignale“ ignoriert habe. Welche Warnsignale waren das?

(…) „Der Generalbundesanwalt (GBA) Peter Frank hat bei einer Befragung im Hessischen Landtag bestätigt, dass die Hanauer Staatsanwaltschaft und der GBA im November 2019 Post von R. bekommen haben. Darin hat er seine rechtsextremen Ansichten offengelegt. Ohne Folgen. Wenn ich zwei Seiten mit der Ankündigung vollschreibe, dass ich Deutsche umbringen will und das der Staatsanwaltschaft schicke, dann klopft zwei Stunden später die Polizei bei mir. (…) Die Behörden haben nicht einmal Polizisten hingeschickt, um mal zu gucken, was das für ein Typ ist. Er konnte seine zwei Waffen behalten.“ (…)

taz: Hinterbliebene haben auf zwei Vorfälle aus den Jahren 2017 und 2018 hingewiesen. Was ist da geschehen?

Damals kam ein vermummter Mann mit Kampfanzug aus einem Gebüsch zum Jugendzentrum in Hanau-Kesselstadt. Das ist der Stadtteil, in dem wir leben, und es ist auch der zweite Tatort vom 19. Februar. Der Unbekannte ging damals mit Waffen in der Hand auf Jugendliche zu und bedrohte sie. Die haben die Polizei gerufen. Die kam zwar und hat die Jugendlichen vernommen – aber keine Akte angelegt. (…) Die Familie von Hamza Kurtović, einem der Opfer vom 19. Februar, hat darauf aufmerksam gemacht. (…) Erst als wir im Landtag waren, wurde das BKA beauftragt, dem nachzugehen. Es hat dann herausgefunden, dass es diese Aussagen gab. Ohne Druck von uns wäre das einfach übergangen worden.“ (…)

taz: Sie sagen, die Polizei habe auch während der Tat versagt. Inwiefern?

In der Nacht hat es sieben Stunden gedauert, bis man uns die Namen der Toten genannt hat. Die Polizei ist eine Institution, auf die wir keinen Einfluss haben. Aber die soll ihre Arbeit richtigmachen. Und jeder, der gefährlich ist und eine Waffe besitzt, dem muss man sie entziehen, egal ob Nazi oder Türke oder wer auch immer. (…) Ich will, dass jeder, der an diesem Versagen beteiligt war, beim Namen genannt und zur Rechenschaft gezogen wird.(…) Der Innenminister Peter Beuth sagte, R. sei der Polizei nicht bekannt gewesen. Er versucht immer noch, alles schönzureden und behauptet, die Polizei habe exzellent gearbeitet. Als wüssten wir von nichts. Er hat seinen Laden nicht im Griff und deswegen wollen wir, dass er geht.“ (…)

taz: Was befürchten Sie?

Ich denke zum Beispiel an Sätze wie an den des AfD-Fraktionsmitarbeiters Marcel Grauf aus Baden-Württemberg, der geschrieben hat: „Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“ Wenn die am Ende doch mit der CDU koalieren, habe ich Angst, dass wir nicht mal die Zeit haben werden, unsere Koffer zu packen.“

(Das Interview führte Christian Jakob am 27.7.20, Quelle: https://taz.de/Hinterbliebener-ueber-Hanau-Anschlag/!5699134/).

3.

say their names:

Solidarität mit den Opfern des rassistischen Anschlags in Hanau am 19.2.2020

Die Saat Jahrzehnte langer rassistischer und anti-muslimischer Hetze gegen Migrant*innen und Geflüchtete ging auch am 19.2.2020 in Hanau auf. Ein Täter ermordete neun Menschen aus rassistischen und völkischen Motiven.

Ferhat Unver, 22 Jahre, ist ein Kind kurdischer Eltern. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und hat seine Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur abgeschlossen. In der Türkei ist er nie gewesen. Sein Großvater kam als Arbeiter nach Deutschland. Er traf sich oft mit seinen Freunden in der Arena Bar, wo er von dem Rassisten erschossen wurde.

Mercedes Kierpacz, 35 Jahre, ist deutsche Staatsbürgerin und Angehörige der nationalen Minderheit der Roma. Sie hat am Tatabend in der Arena Bar gearbeitet. Sie war schwanger und hinterlässt zwei Kinder.

Sedat Gürbüz ist 30 Jahre und der Besitzer der Shishabar Midnight. Er hinterlässt einen Bruder.

Gökhan Gültekin, 37 Jahre alt, gebürtig in Hanau, ist der Sohn einer kurdischen Familie, die seit 1968 in Hanau lebt. Er ist gelernter Maurer und arbeitete nebenberuflich als Kellner.

Hanza Kurtović, 20 Jahre alt, lebt in Hanau und hat gerade seine Ausbildung abgeschlossen. Er wurde in der Shishabar Midnight von dem rassistischen Täter erschossen. Seine Familie stammt aus Prijedor in Bosnien-Herzegowina. Sein Vater, er und seine drei Geschwister waren in Deutschland geboren.

Kaloyan Velkov, 33 Jahre alt, ist bulgarischer Roma und lebt seit 2 Jahren in Deutschland. Er ist der Wirt der Bar La Votre neben der Shishabar Midnight. Er hinterlässt einen kleinen Sohn.

Vili Viorel Paun kam als 16-jähriger rumänischer Roma nach Deutschland, um Geld für die medizinische Behandlung seiner Mutter zu verdienen. Er ist das einzige Kind seiner Eltern und arbeitet bei einem Kurierdienst.

Said Nessar Hashemi ist Deutsch-Afghane mit doppelter Staatsbürgerschaft und ist in Hanau aufgewachsen. Er hat eine Ausbildung als Maschinen- und Anlagenführer. Sein 23-jähriger Bruder überlebte den Anschlag schwer verletzt.

Fatih Saraçoğlu war vor drei Jahren aus Regensburg nach Hanau gezogen. Auch er wurde in der Shishabar Midnight erschossen.

Verständlicherweise ist nun die Angst der Begleiter von vielen Migrant*innen und Geflüchteten. Wir wollen uns jedoch auch daran erinnern, dass dies nicht der erste mörderische Anschlag von Rassisten und Rechtsextremisten gegen vermeintlich „Fremde“, gegen Migrant*innen und Geflüchtete ist. Im Gegenteil sind in Deutschland vom Aussehen oder ihrer Abstammung her angeblich „Fremde“ seit Jahrzehnten Opfer von gewaltsamen Angriffen, Morden und alltäglicher Diskriminierung und Ausgrenzung.

Wir wollen Nichts vergessen. Wir wollen Alle, die Opfer von Rassismus und Rechtsradikalen wurden, in unserem Gedächtnis behalten.

Wir wollen uns von den Rassisten und Rechten nicht unterkriegen lassen. Gemeinsam wollen wir gegen Rassismus und gegen Rechtsradikale aufstehen und uns nicht nach Abstammung, Kultur oder Religion spalten lassen.

Wir sagen „Nein!“ zu jeder Art von Zusammenarbeit mit Rassisten und Rechtsradikalen unter welchem Firmenschild sie auch immer antreten.

Stellungnahme von Wilde Rose e.V., von FIPS und von anderen Organisationen vom 1.3.2020

***

Hinweis:

Chronik 2010 – 2020: Ein Jahrzehnt des anti-muslimischen und anti-jüdischen Rassismus und des Rechtsextremismus (Quelle: htps://fips-news.de/?p=19).

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