FIPS NEWS Nr. 1 Personzentrierte Krisenintervention und Suizidprävention mit Inhaftierten

Ausstellung in Mainz Sept. – Nov. 2018

Inhalt:

  • Editorial
  • Bericht von der Vernissage
  • Begrüßungsrede
  • Vier Begleittafeln (Suizidgefährdung / Risikofaktor Freiheitsentzug / Suizidale Symptomatik und Veränderungsprozess / unser Konzept der Krisenintervention)
  • Wirksame Faktoren einer therapeutischen Krisenintervention
  • Zum therapeutischen Gehalt künsterischer Gruppenarbeit
  • Zur Personzentrierten Kunsttherapie
  • Reflexionen über kunsttherapeutische Verläufe
  • Weiterführende Literatur
  • Ausblick

Editorial

Mit dieser Ausgabe von FIPS NEWS wollen wir über unsere Ausstellung „Verschlossene Welten“ von September bis November 2018 in der Karmeliterkirche in Mainz informieren.

Die Ausstellung zeigte Bilder und Zeichnungen aus dem Leben – allerdings einem ganz besonderen Leben, einem Leben hinter Gittern. Doch wer würde mit zartfarbenen Aquarellen, verspielten Abstraktionen oder mit vor Angst erstarrten Gesichtern, die mit Acrylfarben auf Leinwand gebannt wurden, rechnen?  So weit reicht der Spannungsbogen der gezeigten Arbeiten.

Die Bilder entstanden in einer vom Dipl. Sozialarbeiter Dr. Peter Milde geleiteten therapeutischen Behandlung in den Justizvollzugsanstalten Weiterstadt und Frankfurt am Main, die mit kunst- und sozialtherapeutischer Hilfe neu inhaftierte Untersuchungsgefangene dabei unterstützt, mit der neuen Situation im Gefängnis zurecht zu kommen. Denn von heute auf morgen im Knast zu sein, das verkraften viele nicht alleine – ohne Kontakt zur Frau, zu den Kindern oder zu Freunden. Angst vor der Zukunft, die nagende Schuld und Scham und das bei oft 20 Stunden allein in der Zelle, da sind Lebenskrise und Suizidgedanken nicht fern. Ca. 40 % der inhaftierten Männer haben in den ersten zwei Wochen der Inhaftierung Suizidgedanken. Im Gefängnis sind Suizide zu Beginn der Inhaftierung und in der Untersuchungshaft überproportional häufig.

Hier setzt unsere Arbeit an. Mit den Mitteln der kreativen Gestaltung, dem Gespräch darüber, der Spieltherapie und dem Erleben und Erfahren in der Gruppe werden wir beratend, unterstützend und helfend tätig. Angeleitete Gespräche und künstlerische Beschäftigung in der Gruppe mit Personen, die die gleiche Lebenserfahrung machen, bieten die Möglichkeit, wieder zu sich zu finden, sich der Verantwortung und der Zukunft zu stellen und eine neue Lebensperspektive zu finden.

Die therapeutische Arbeit mit Tätern – auch wenn für Untersuchungsgefangene erst einmal von der Unschuldsvermutung auszugehen ist – stellt auch für uns Therapeut*innen immer einen Spagat dar, denn diese Menschen, die im Knast viele Probleme haben, die Hilfe und Unterstützung benötigen, haben eventuell auch anderen Personen schweres Leid zugefügt. Uns berührt dieses Leid der Opfer, auch wenn wir uns konkret den Tätern zuwenden.

Wir sind an einem fachlichen Austausch interessiert und können die Ausstellung auch in anderen Zusammenhängen gerne zur Verfügung stellen.

Die Gruppenleiter*innen, die nun schon viele Jahre Erfahrung in der therapeutischen Arbeit mit Suizidgefährdeten haben, können sich auch vorstellen, in anderen Arbeitszusammenhängen mitzuarbeiten.

Mit einer E-Mail an fips@gmx.ch können Sie mit uns Kontakt aufnehmen.

6.4.2019        Dr. Peter Milde

Bericht von der Vernissage in der Karmeliterkirche in Mainz am 15. September 2018

Ein Festtag für die Logotherapie

Der Auftakt:
Wie lebt man mit, wie lebt man trotz Schuld weiter? Der gotische Kirchenraum des Karmeliterklosters ist ein guter Ort für diese Frage. Gestellt wird sie von vielen Menschen, aber besonders von Inhaftierten. Die Suizidrate von Untersuchungshäftlingen ist erschreckend hoch. Auch danach liegt sie über dem Durchschnitt der Bevölkerung. Einige Menschen haben sich dieser Problematik besonders angenommen und stellen ihre Arbeit mit der Ausstellung „Personenzentrierte Suizidprävention und Krisenintervention“ vor. Dr. Peter Milde führt in das Thema ein, denn über das Leben im Gefängnis ist „draußen“ wenig bekannt. Der Tagesablauf ist monoton und strikt geregelt, nichts kann selbst gestaltet werden, nichts ist selbst verantwortet. Dazu kommt die innere Verunsicherung durch Scham, Schuld, Ängste; das Selbstwertgefühl ist erschüttert, Beziehungsprobleme kommen dazu; die Aggression richtet sich nach außen und oft auch gegen sich selbst.

Was hilft?
Das Eingehen auf den einzelnen Menschen, Hilfen zur Selbsterkenntnis, Bewusstmachung des Selbstwertes, sich als Teil der Gesellschaft empfinden lernen, etwas gestalten. Dabei hilft Kunst.

Frau Creter zeigt, was Malerei bewirken kann: Gefühle können geäußert, nach außen gebracht werden; Veränderungen im Befinden, zunehmende Hoffnung, mehr Lebensmut – all das wird anhand der Bilderserie eines Häftlings eindrucksvoll aufgezeigt.

Frau Herzberger betont, wie wichtig wertschätzender Kontakt ist, weil er die Basis für Vertrauen schafft. Kunst ist Sprache für Unsagbares, Spiele dienen dem Kennenlernen (auch dem eigenen!), Arbeit mit den Händen (z.B. Häkeln) bringt Freude am Gestalten und stärkt das Zutrauen zu sich selbst.

Gemeinschaftliches Kunstwerk, © Peter Milde

Staunen lässt ein Gemeinschaftswerk, das von Frau Leitschuh vorgestellt wird: Eine große Fläche wird unterteilt durch Linien, kreuz und quer, wie es den Ausführenden in den Sinn kommt. Und dann werden die Leerflächen ausgemalt. Jeder wählt seine Farben. Und doch wächst ein Gemeinsames: Das Aufeinander-Achten, das Sich-Einfügen, das Sich-Hingeben an das, was gerade entsteht – Einübung ins Leben, das schwer genug sein wird, wenn sich eines Tages die Tore in die äußere Freiheit wieder öffnen werden!

(Quelle: Ein Bericht von Anneliese Handel in: Akademie für Logotherapie, Logo-58-September-2018 newsletter.pdf)

Begrüßungsrede auf der Vernissage

„Verschlossene Welten“ – Ausstellungseröffnung in der Karmeliterkirche in Mainz am 15. September 2018 anlässlich der Feier des 20. Gründungstages der „Akademie für Logotherapie und Existenzanalyse Mainz e.V.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

mir fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, die Vernissage der Ausstellung „Verschlossene Welten“ von Bildern von Inhaftierten, bzw. ehemaligen Inhaftierten der Justizvollzugsanstalten Weiterstadt und Frankfurt am Main I mit männlichen Untersuchungshäftlingen und der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main III mit weiblichen Inhaftierten zu eröffnen. Unsere Künstler*innen können daher heute nicht anwesend sein, was für eine Vernissage ja eigentlich unüblich ist. D.h. wir werden für sie daher auch stellvertretend sprechen.

Mein Name ist Peter Milde. Ich bin Diplom-Sozialarbeiter, Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler, Personzentrierter Berater und seit einigen Jahrzehnten als Vollzugsabteilungsleiter in verschiedenen hessischen Gefängnissen tätig.

Die Therapeutinnen und Therapeuten sind:

Inga Creter: personzentrierte Kunsttherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Logotherapeutin.

Eva Leitschuh: Freischaffende Künstlerin und Diplom-Grafikerin.

Verena Herzberger: Diplom-Sozialarbeiterin und Psychoedukative Trainerin.

Christel Werner-Yeboah: Kunstlehrerin und Pädagogin.

Nana Yeboah: Diplom-Sozialpädagoge, Pädagoge und Altenpfleger.

Die ausgestellten Bilder haben inhaftierte Frauen und Männer geschaffen, die meistens in Untersuchungshaft und einige auch in Strafhaft waren oder noch sind und die, ausgelöst durch die Haft und die Haftbedingungen in eine schwere Lebenskrise gerieten, aus der sie ohne Hilfe, Unterstützung und therapeutische Begleitung nur schwer oder auch gar nicht herausgefunden hätten.

Die meisten von ihnen waren und sind schwer suizidal, also lebensmüde und lebensüberdrüssig, es fehlte ihnen an Lebenswille und an Mut zum Überleben.

Was wir also machen ist Suizidprävention und Krisenintervention mit Gefangenen im Gefängnis. Wir haben damit 2006 in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt begonnen und führen dies nun in der Männeranstalt und der Frauenanstalt in Frankfurt am Main – Preungesheim weiter.

Warum machen wir Öffentlichkeitsarbeit? Warum stellen wir Bilder aus? Warum präsentieren wir unsere Arbeit?

Diese Ausstellung ist nicht die erste, die wir veranstalten. Und ich gestehe, dass uns dies auch immer viel Freude und Spaß macht. Dies ist aber nicht der Grund. Die Gründe sind sehr vielfältiger Art. Und ich möchte bei der Darstellung dieser Gründe ein wenig verweilen, weil dies auch etwas über unsere Motive aussagt und Sie, verehrte Anwesende, haben ja auch ein Recht darauf uns ein wenig kennenzulernen.

Erster Grund:

Wir wollen unsere erfolgreiche Arbeit vorstellen. Die Suizidrate ist im Gefängnis neunmal höher als in der Allgemeinbevölkerung. In der Untersuchungshaft und zu Beginn der Inhaftierung finden die meisten Suizide in Haft statt.

Wir wollen Gutes tun  und darüber sprechen, weil wir nach Möglichkeit ein Beispiel geben wollen.

Auch da hatten wir Erfolg. Unsere Arbeit findet nun seit über einem Jahr auch in der einzigen Frauenanstalt Hessens statt. Und unser Konzept findet Anerkennung und Förderung durch die Justiz.

Zweiter Grund:

Gefängnis ist ein Tabuthema. Trotzdem Gefängnis und Verbrechen offenbar eine Faszination in der Öffentlichkeit darstellen, wie der aktuelle Journalismus, aber auch die Belletristik und Film und Fernsehen zeigen.

Was weiß die Öffentlichkeit aber tatsächlich über das Leben in einem Gefängnis, wie sich eine Gefangene, ein Gefangener fühlt oder auch darüber, warum jemand schwer kriminell wird?

Wodurch ist das Leben im Gefängnis gekennzeichnet?

Eine neu inhaftierte Person verliert mit einem Schlag alles Vertraute, Private, Intime und das, was er sein Eigenes nennt.

Das Leben im Gefängnis ist durch Monotonie und Einschränkung der Handlungsfähigkeit und einen strikten Tagesablauf mit strengen Regeln und Verboten gekennzeichnet. Von einem selbstverantworteten und selbstgestalteten Leben kann keine Rede sein. Die Person ist auf sich alleine zurückgeworfen, Angehörige und Freunde können erst einmal nicht zu ihr*ihm und später können sie dann 1 bis 2 mal im Monat sie*ihn für jeweils eine Stunde besuchen.

Die Person findet sich in einer eigenen Welt, der Welt des Gefängnisses wieder, in der ganz andere Regeln des Zusammenlebens gelten. Angst vor den anderen Inhaftierten, Angst davor etwas falsch machen zu können und dann mit Repressalien rechnen zu müssen paart sich mit Scham und Schuldgefühlen darüber, was man verbrochen hat. Die Subkultur im Gefängnis packt einen und sich da herauszuhalten ist nicht einfach.

Die psychischen Folgen sind neben den bereits genannten Ängsten, eine starke Verunsicherung des Selbst, eine Destabilisierung der Lebensgrundlage und der Verlust der Lebensperspektive. Auch mit Problemen etwa gesundheitlicher Art oder Beziehungsproblemen ist sehr viel schwieriger umzugehen, als dies die Person bisher gewohnt war.

So kann aus der psychischen Anspannung bei fehlenden Möglichkeiten ihrer Bewältigung  eine Selbstwertkrise, ein Knastkoller mit Aggressionen nach außen entstehen. Dies kann aber auch zu Selbstaggressionen und Suizidversuchen oder zu Suiziden führen.

Hierauf den Blick der Öffentlichkeit zu schärfen, ist daher auch ein Anliegen von uns.

Dritter Grund – warum wir Öffentlichkeitsarbeit machen:

Wir sind oft konfrontiert mit Vorurteilen über Täter, etwa folgender Art: „Denen gehört es nicht anders, denen geht es im Gefängnis eh noch viel zu gut, usw.“

Dem halten wir entgegen:

Dass Täter auch Opfer sind, denn aus Opfern werden häufig Täter, wir wissen dies aus traumatischen Gewalterfahrungen oder Missbrauchserfahrungen.

Weiter wenn Hannah Arendt in Bezug auf die NS-Täter von der „Banalität des Bösen“ sprach, dann meinte Sie, dass das Böse sich in einem scheinbar ganz normalen Menschen finden lässt. – Wir erkennen einen Täter nicht.

Das heißt aber auch, dass das Böse nichts ist, was nicht zur menschlichen Existenz gehört.Wenn die Frühromantikerin Bettina von Arnim forderte, „der Richter müsse sein eigenes Selbst im Verbrecher fühlen“, um ihn gerecht richten zu können, dann wollte sie damit ausdrücken, dass auch der Täter Mitgefühl und Empathie bedarf.

Warum?

– weil uns manches Kriminelle vielleicht gar nicht so fremd ist, wie wir manchmal glauben wollen und

– weil die Gründe, warum jemand zum Täter wird, oft sozialer Natur sind: Etwa die desolaten Lebensverhältnisse oder etwa die gesellschaftliche Ausgrenzung von Suchtkranken, von psychisch Kranken, von Obdachlosen, von Geflüchteten.

Vierter Grund:

Wir sind oft mit dem Vorwurf konfrontiert: „Warum wird so viel für Täter getan, aber nichts für die Opfer?“

Richtig, es wird wenig für Opfer getan. Aber warum? Stellen Sie sich einmal einen TV-Krimi vor, wo es nicht 90 % um den Täter, sondern einmal 90 % um das Opfer ging. Das wäre einmal spannend, aber dies machen keine Drehbuchautoren, keine Regisseure und kein Sender, es würden wahrscheinlich auch nur Wenige sehen wollen.

Opfer gelten als Loser – als Projektion für Zuschauer sind sie nicht so gut geeignet.

Als Therapeuten und Sozialpädagogen wollen wir uns nicht ausspielen lassen. Die Rechte der Opfer auf gesellschaftliche Anerkennung und Hilfe, auf Entschädigung durch die Gesellschaft ist viel zu marginal.

Aber deshalb keine Arbeit mit Tätern machen, hilft Opfern nicht, sondern schafft neue Opfer.

Fünfter Grund:

Der Freiheitsentzug resozialisiert nicht: Hohe Rückfallquoten gerade im Jugendvollzug bis zu 75%. Lange galt daher auch unter Fachleuten: „nothing works!“ Aber es stellt sich die Frage: what works? Dafür möchten wir die Öffentlichkeit sensibilisieren.

Ohne vernünftige Täterarbeit – auch kein Schutz von potentiellen Opfern. Aus der Kindererziehung wissen wir, dass Strafen wenig oder gar nichts nutzt. Warum soll es bei Straftätern anders sein?

Die Öffentlichkeit sollte sich endlich für effiziente Täterarbeit einsetzen. Das Wegsperren alleine hilft nicht.

Danke – gemeinschaftliches Kunstwerk, © Peter Mide

Sechster Grund:

Was ist aber erfolgreiche Resozialisierung? – hierfür wollen wir Türe öffnen – das ist unser Ziel, neben der individuellen Hilfe, die wir geben.

Wir wollen unseren Klienten helfen Gewahr zu werden ihrer innerpsychischen und zwischenmenschlichen Probleme, die zur Kriminalität geführt haben.

Innerpsychisch sollen sie bewusst werden etwa ihrer Unzufriedenheit mit sich selbst und der von ihnen als ungerecht empfundenen Einengung der Möglichkeiten der Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse – was bei ihnen Triebe und Verlangen hervorgerufen hat, die sie auf Kosten anderer, auf kriminellen Wege gestillt haben.

Auf zwischenmenschlicher, d.h. gesellschaftlicher Ebene bedeutet dies, dass unsere Klienten sich ihres Selbstwerts und ihres Rechts bewusst werden, einzufordern, dass sie ihren Wünschen und Bedürfnissen nach einem erfüllten Leben, nach der Entfaltung ihrer Fähigkeiten nachkommen können – und zwar im Einklang mit ihren Mitmenschen. Und dazu gehört, dass sie erkennen und akzeptieren, dass ihre Mitmenschen gleiches wollen, dass unsere Klienten daher ihre  Mitmenschen schätzen lernen, da ihr Gegenüber zu recht gleiches für sich in Anspruch nimmt, egal welchen Geschlechts, welcher Ethnie oder Nationalität diese Anderen sind. Eine solche Haltung gegenüber den Mitmenschen zu erlangen und einzunehmen, verhindert dissoziales und kriminelles Verhalten.

Resozialisierung und Sozialpädagogik im eigentlichen Sinne ist eine  Erziehung zu einem sozial eingestellten und sozial handelnden Menschen.

Wir wollen daher erreichen, dass sich die Öffentlichkeit für eine solche Resozialisierung einsetzt, weil die Entlassung aus dem Gefängnis, heute noch der schwerste Schritt eines Inhaftierten ist.

Siebter Grund:

Die individuelle Therapie hilft dem Einzelnen. Doch wenn es eben auch gesellschaftliche Gründe für Kriminalität, wenn es gesellschaftlich begründete unsoziale Verhaltensweisen gibt, dann ist die individuelle Hilfe auch für den Sozialpädagogen nur ein Bein auf dem er steht. Bekanntlich kommt man dann leicht ins Straucheln. Das zweite Bein ist die Sozialpolitik, d.h. das Wirken in die Gesellschaft auf Veränderung der sozialen Lebensverhältnisse.

Und hier – ich bin kein Experte – aber ich glaube auch hier hat unsere Arbeit sehr viel mit Logotherapie und mit Existenzanalyse zu tun, mit der wir uns heute, anlässlich der Feier des 20. Gründungstages der „Akademie für Logotherapie und Existenzanalyse Mainz e.V.“ besonders beschäftigen.

Wir betrachten in den Therapien die individuelle Frage nach dem Sinn des Lebens, nach der Entwicklung des Selbstwertes und Selbstkonzepts unserer Klienten, damit sie wieder Mut zum Leben und Hoffnung und Zuversicht finden, ihre Probleme bewältigen zu können.

© Peter Milde

Aber wir schärfen den Blick unserer Klienten nicht nur auf ihre individuellen Probleme und Ressourcen. Unsere Klienten sollen ihre Existenz nicht als eine Monade wahrnehmen, sondern sollen sich verstehen als Teil der Gesamtheit, als Teil der Gesellschaft. Wir wollen auch hier wenigstens die Sicht unserer Klienten erweitern. Daher machen wir unsere Arbeit auch nicht in einer Einzelbetreuung oder Einzeltherapie, sondern als Gruppentherapie.

Sich im therapeutischen Gruppenprozess als soziales Wesen zu erleben, eine Rückmeldung von Anderen, Trost, Anerkennung aber auch Widerspruch zu erfahren, Glück und Schmerz erleben und zeigen zu können, ist Teil unserer Therapie.

Denn der private Lebenssinn, das private Lebensglück ist untrennbar mit der Existenz der Gesellschaft, mit ihrer (im umfassenden Sinne verstandenen) Ökologie verbunden. Und es wird – allen Widerständen zum Trotz – immer klarer und immer mehr Menschen deutlich, dass die individuellen Krisen und die Krise der Gesellschaft miteinander verzahnt sind.

Die Gesellschaft stürzt in immer mehr Krisen und Konflikte, da der Einzelne sich scheinbar nur auf Kosten anderer entfalten, zu Reichtum und Anerkennung kommen kann. Ein aktuelles Beispiel: Wenn Braunkohle als Energieträger riesige Gewinne verspricht, dann tritt die Erkenntnis, dass die Verbrennung von Kohle ein erhörtes Risiko darstellt, in den Hintergrund. Es finden sich immer wieder Parteien und Politiker, die Polizisten in den Hambacher Forst schicken, damit Anteilseigner der Konzerne ihre Gewinne weiterhin auf Kosten der Allgemeinheit machen können. Ein anderes Beispiel ist die Ausgrenzung, die Hetze und die Gewalt gegen Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, die wie eine Welle über Deutschland schwappt und so viel Beifall erfährt – auch hier ist die Vorstellung damit verbunden auf Kosten anderer Vorteile erlangen zu wollen.

Existenzanalyse heißt m.E. daher auch: Die entwicklungs- und lebensbejahende Existenz des Einzelnen als Teil einer offenen Gesellschaft zu sehen, die eine ökologische Existenz der Gesellschaft als Ganzes ermöglicht. Und wir sind leider auf diesem Weg erst einige Schritte gegangen. Sozialpädagogik im weiteren Sinne heißt daher auch in die Gesellschaft hinein für deren soziale Entwicklung und Gestaltung zu wirken.

Für den Sozialpädagogen ist die individuelle therapeutische Arbeit und das Wirken und Handeln zur gesellschaftlichen Veränderung daher etwas, was unbedingt zusammen gehört.

Auch deshalb machen wir Öffentlichkeitsarbeit. Auch deshalb präsentieren wir unsere Arbeit heute hier.

Liebe Anwesende,

lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen, wie wir unsere Arbeit im konkreten gestalten, bevor die Praktikerinnen und Praktiker zu Worte kommen, die unsere Klienten in ihrem therapeutischen Prozess begleiten.

Unsere Gruppenkrisenintervention und Suizidprophylaxe ist eine sehr intensive Behandlungsmaßnahme in der Regel zu Beginn der Untersuchungshaft, wenn die*der Erstinhaftierte oder die*der mit einem schweren Tatvorwurf konfrontierte Gefangene in eine schwere Lebens- und Sinnkrise gerät. Ab und zu mal ein Gespräch ist dann nicht mehr ausreichend, zumal der Person ja keinerlei vertraute Menschen zur Verfügung stehen, mit denen sie*er sich austauschen könnte. Dies bedeutet, dass wir an 4 Werktagen in der Woche jeweils eine Gruppensitzung im Umfang von jeweils 3 Zeitstunden anbieten. In der Regel ist eine Behandlung auf 6 – 8 Wochen angelegt, aber sie kann nach Bedarf auch verlängert werden. Es nehmen in der Regel bis zu 8 Personen gleichzeitig teil. Die Teilnahme ist freiwillig. Dadurch dass Personen nach einer gewissen Zeit aus der Gruppentherapie ausscheiden, können auch jederzeit bedürftige Personen wieder aufgenommen werden.

In diesen Gruppensitzungen ist die künstlerisch-kreative und gestalterische Arbeit ein Schwerpunkt. Kreativität ist Lebensausdruck und die Entfaltung von kreativer Tätigkeit schafft Lebenswille und Mut zur Auseinandersetzung nicht nur mit dem Material, sondern auch vermittels des künstlerischen Objekts auch Mut zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Der Austausch in der Gruppe über die künstlerische Aufgabe, das künstlerische Produkt ermöglicht dann auch einen Austausch in der Gruppe über Gefühle, über das Erleben, die eigenen Erwartungen und Hoffnungen. Ein weiterer Schwerpunkt sind  gruppendynamische und spieltherapeutische Interventionen.

Ich übergebe nunmehr das Wort an die Gruppenleiterinnen und Gruppenleiter, die nun über ihre therapeutische Arbeit mit den Klient*innen berichten werden.

15.09.2018 Dr. Peter Milde

Vier Begleittafeln zur Ausstellung:

Suizidgefährdung

Die Selbsttötung ist ein gesellschaftliches Tabu. Dies steht im krassen Gegensatz zur Häufigkeit von Selbsttötungen und zur Anzahl der davon betroffenen Angehörigen und Freunde. Die jährlichen Zahlen für Deutschland: ca. 10.000 Suizide und ca. 100.000 Suizidversuche. Damit übersteigt die Anzahl der Suizide die Anzahl der Toten bei Verkehrsunfällen, Mord und Totschlag, Drogenkonsum und AIDS.

Im  Zeitraum von Januar 2000 bis Dezember 2010 haben sich 907 Gefangene (davon 23 Frauen) in deutschen Gefängnissen das Leben genommen. 53 % befanden sich in Untersuchungshaft. 13% töteten sich bereits in den ersten drei Tagen und 48 % in den ersten drei Monaten der Haft.

In hessischen Gefängnissen haben sich in dem Zeitraum 1987 bis 2011 insgesamt 191 Gefangene, darunter 4 Frauen, umgebracht. Im statistischen Mittel sind dies pro Jahr 8 Selbsttötungen. Für den Zeitraum von 2010 – 2015 beträgt das statistische Mittel für die Gefängnisse in Hessen nur noch 3 Selbsttötungen pro Jahr.

Besonders gefährdet sind Untersuchungsgefangene, die plötzlich aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und mit der Schuld konfrontiert sind. Eine häufigere Selbsttötung findet sich bei Erstinhaftierten und bei Personen mit einem Tatvorwurf eines schweren Gewaltdelikts im sozialen Nah-Raum. Die Suizidrate im Gefängnis ist  neunmal höher als in der Allgemeinbevölkerung.

Risikofaktoren für eine Selbsttötung in der Allgemeinbevölkerung sind: Depressionen, Suchterkrankungen, Psychosen, Suizidversuche, Fluchterfahrung, traumatische Lebensereignissen (wie Verlust des Ehepartners, schwerer Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Mobbing). Suizide bei Männern sind dreimal häufiger als bei Frauen, Suizide sind häufiger bei älteren als bei jüngeren Menschen. Hingegen sind Suizidversuche häufiger bei Frauen und jungen Menschen.

© Peter Milde

Freiheitsentzug – ein Risikofaktor für erhöhte Suizidgefährdung

Deprivation:

  • Verlust von Vertrautem, Privatem und Eigenem,
  • Monotonie (räumlich, Verhalten, intellektuell, sozial),
  • Einschränkung der Handlungsfähigkeit und Verantwortlichkeit für das Selbst und Andere bis hin zum Verlust der Selbstbestimmung und der Kontrolle über das eigene Verhalten,
  • Trennung vom sozialen Umfeld, insbesondere wichtigen Bezugspersonen,
  • Verlust der Möglichkeiten aktiven Handelns, Verunsicherung, Destabilisierung der bisherigen Lebensgrundlage.

Prisonisierung:

  • Fremdbestimmung des Tagesablaufs, des Besitzes, des Kontakts zu Anderen,
  • Zuordnung zur Gruppe anderer Gefangener bis hin zur Zwangsgemeinschaft mit „unsympathischen“ Mitmenschen,
  • Inhaftierungsschock: Ängste, Scham und Schuld werden beherrschende Gefühle und lähmen die Aktivität und führen zu plötzlichem Aggressionsausbruch („Knastkoller“),
  • Subkulturerfahrung (Spannungen, Konflikte, Bedrohungen, unbekannte und bedrohlich erlebte Rollen- und Verhaltenserwartungen),
  • Viktimisierungsängste und/oder Viktimisierungserfahrungen (körperliche oder sexuelle Misshandlung, Bedrohung, Demütigung, Erpressung).

Gefangene, die an solchen Erfahrungen zerbrechen, neigen dazu, nicht auf ihre Not aufmerksam zu machen, sondern sich zurückzuziehen.

Psychische Folgen:

  • Verlust sexuellen Erlebens,
  • Zukunftsängste,
  • Ängste vor Begegnungen und Kommunikation mit Anderen,
  • Verunsicherung,
  • Destabilisierung der bisherigen Lebensgrundlage und der Lebensperspektive,
  • Bedrohung des Selbst (Versagenserleben, Selbstwertkrise),
  • Krisen ausgelöst durch ablehnende oder als ungerecht empfundene gerichtliche Entscheidungen,
  • Beziehungskrise, Beziehungstrennung, Kontaktabbruch zu Kindern, Verwandten und Freunden,
  • gesundheitliche Belastungen werden verstärkt auch als psychischer Stress erlebt,
  • das Erleben im Gefängnis und die psychischen Belastungen können gar zu einer Psychose („Knastpsychose“) führen.

Zur Entwicklung der suizidalen Symptomatik und zum therapeutischen Veränderungsprozess

Zu Beginn der Krisenintervention ist das Erleben der Person  extrem belastet durch

  • Leiden unter der Einengung und dem Verlust ihres Sozialstatus     (Beziehungsebene),
  • Verlust von Autonomie und Selbstachtung (Gefühlsebene) und
  • Inkongruenzerleben  (Carl Rogers).

Inkongruenzerleben meint, dass die bedrückenden bis traumatischen Erfahrungen der Person nicht in ihr Selbst integriert werden können. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem Selbst und diesen Erfahrungen (Inkongruenzerleben). Die Person ist ihren eigenen Erfahrungen gegenüber entfremdet.

Die Person verfügt über keine adäquaten Einstellungen und Verhaltensweisen, um mit diesen Erfahrungen konstruktiv umzugehen, d.h. Lösungen für ihre Probleme finden zu können. Die Person reagiert daher mit Abwehrverhalten.

Nehmen die Inkongruenzerfahrungen überhand, dann kann die Abwehr nicht mehr gelingen, dann kommt es zum psychischen Zusammenbruch. Die Person hat jetzt wenig Selbstvertrauen, ist verunsichert, fühlt sich überfordert oder gar ohnmächtig, leidet an inneren Spannungen, diversen Ängsten oder gar an psychotischen Symptomen.

Im Beratungsprozess und in der Krisenintervention werden durch einfühlendes Verstehen (Empathie), durch bedingungslose positive Wertschätzung (Akzeptanz) und durch echtes Auftreten der*des Beraters (Kongruenz) Prozesse der Selbsterforschung in Gang gesetzt. Das Abwehrverhalten gegen unangenehme und belastende Erfahrungen nehmen ab und neue Möglichkeiten des Handeln und der Einstellungen können sich erschließen. Im Ergebnis wird die Person offener für ihre Erfahrungen. Abwehrverhalten und Entfremdung (Inkongruenzerleben) nehmen ab und kongruentes Erleben nimmt zu.

Kreatives Gestalten im kunsttherapeutischen Prozess ist Ausdruck von Leben und Lebenswillen. Konflikte und Widersprüche werden mit künstlerisch-kreativen Mitteln erfahrbar. (Keine Bewertung des künstlerischen Produkts). Die personzentrierte Gruppenintervention ermöglicht eine neue Art der Kommunikation und Interaktion, die das Erleben, die Gefühle und Einstellungen in den Mittelpunkt rücken. Ein Prozess der Selbsterforschung mit kreativen und kommunikativen Mitteln wird in Gang gesetzt. Eine nichtverletzende Konfrontation und Auseinandersetzung mit der Tat wird ausgelöst.

Das Konzept der Suizidprävention und der personzentrierten Gruppenkrisenintervention im Gefängnis

Unser Konzept der Suizidprävention im Gefängnis basiert auf drei Bausteinen:

Erstens notwendigen Sicherungsmaßnahmen, wie z.B. Gemeinschaftsunterbringung, Unterbringung in einem kameraüberwachten Haftraum, Beobachtung in bestimmten Zeitabständen;

Zweitens einer sozialen und Risikodiagnostik nach Aufnahme des Gefangenen durch Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Ärzte und Psychologen;

Drittens der Teilnahme an der personzentrierten Gruppenkrisenintervention bei Suizidgefährdung.

An unserem Angebot einer personzentrierten  Gruppenkrisenintervention nehmen die Gefangenen freiwillig teil. Die Teilnahme wird ihnen bei Erkennen einer Krise oder einer erhöhten Suizidgefahr empfohlen. Die Maßnahme besteht in einem intensiven Behandlungsinput zu Beginn der Inhaftierung (manchmal auch später, wenn sich eine Krise einstellt). Die Dauer der Behandlungsmaßnahme ist mindestens 6 Wochen mit der Möglichkeit der Verlängerung, sofern dies erforderlich ist. Es können max. 8 Personen gleichzeitig teilnehmen. Es handelt sich um eine rollierende Maßnahme, d.h. es können jederzeit neue Personen aufgenommen und bei erfolgreichem Verlauf der Maßnahme aus dieser entlassen werden. An 4 Tagen pro Wochen für jeweils 3 Zeitstunden finden Gruppenveranstaltungen statt. Diese beinhalten:

  • kreativ-künstlerisches Gestalten / Kunsttherapie,
  • sozialpädagogische Gespräche / Gruppendynamik,
  • gemeinsames Spielen / Spieltherapie.

Kunsttherapie und kreatives Gestalten mit suizidgefährdeten Gefangenen ermöglicht es, da wo etwa durch ein Trauma, einen Schock oder weil der Mensch unsere Sprache nicht (gut) spricht, das künstlerisch-kreative Produkt als Vermittler einzusetzen. Das gemeinsame kreative Gestalten in der Gruppe und die Betrachtung des Ergebnisses werden als Würdigung vom Klienten verstanden und eröffnet ihm Einblicke in sein Selbst und entwickelt Selbstachtung und Selbstwertschätzung.  Zusammen mit dem einfühlenden Gespräch, der Kommunikation und der Begegnung in der Gruppe und in der Spieltherapie wird zudem ein Raum geschaffen für die Selbstreflexion, es wird eine Neu-Orientierung möglich in einer schwierigen und sehr belastenden Lebenssituation, sodass wieder Mut, Hoffnung und Zuversicht  geschöpft werden kann.

12. September 2018   Dr. Peter Milde      

Wirksame Faktoren einer therapeutischen Krisenintervention und Suizidprophylaxe

Ziel meiner therapeutischen Arbeit ist die Behandlung und Prävention akuter psychischer  und suizidaler Krisen, die  durch die Inhaftierung sowie die vorausgehenden und begleitenden Umstände ausgelöst werden.

Besonders wichtig ist mir der Hinweis auf die sich als wirksam erwiesenen  Faktoren einer solchen therapeutischen Behandlung:

Beziehung

Wie bei jeder psychotherapeutisch orientierten Krisenintervention steht auch in der Gruppenkrisenintervention mit Inhaftierten (Risk Assessment) die professionelle Beziehung zwischen dem Menschen (hier Gefangener) und dem Helfer (Risk-Mitarbeiter*in) im Mittelpunkt. Von dem Helfer ist zur wirksamen Krisenintervention eine offene, vorurteilslose, nicht urteilende Haltung gefordert.[1]

Sozialer Kontakt

Durch die sozialtherapeutische Gruppenarbeit wird der Gefangene in ein soziales Umfeld eingebunden und erfährt Unterstützung durch Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Sozialer Kontakt und die Bindung zu anderen Menschen ist das wirksamste Mittel gegen Suizidabsichten, Isolationstendenzen und krisenhafte Entwicklungen.

© Peter Milde

Selbstwirksamkeit

Bei einer Inhaftierung wird  jeder Mensch mit einer massiven Einschränkung seiner eigenen Handlungsfähigkeit konfrontiert. Die Erfahrung von Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit ist jedoch genau das, was ein Mensch in einer akuten psychischen Krise benötigt um diese zu überwinden. Emotionen des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins können suizidale Krisen verstärken. In der Gruppenkrisenintervention bieten wir die Kunst und das Spiel als Ausweg und Mittel an, damit sich die Gefangenen weiterhin als handlungsfähig erleben können. Beim Spiel in einer Gruppe „werden die Karten in jeder Runde neu gemischt“.  Alle Teilnehmer müssen agieren, planen und sich aufeinander beziehen. Dank neuronaler Forschung wissen wir, dass das Gehirn nicht zwischen Realität und Spiel unterscheidet. Die Kunst greift noch weiter. Sie ist nicht nur aktive Beschäftigung, sondern auch Ausdruck unaussprechlicher Dinge im therapeutischen Prozess. Darüber hinaus ist ein fertiges Bild ein handfestes Produkt – eine Performance des eigenen Handelns, ein sichtbarer Beweis, dass der Künstler etwas in die Welt hinein gewirkt hat. Der künstlerische Prozess und das fertige Produkt hat daher im kunsttherapeutischen Setting eine zentrale und bedeutende Stellung zum Erhalt und zur Wiedergewinnung der Selbstwirksamkeitserfahrung.

(Zusammenfassung des Vortrags auf der Vernissage)   

September  2018            

Verena Herzberger (Sozialarbeiterin, Psychoedukative Trainerin und Gruppenleiterin im „Risk Assessment“)


[1] vgl. Wolfersdorf und Etzersdorf in Suizidprophylaxe und Suizidprävention, 2011, Verlag W. Kohlhammer

Zum therapeutischen Gehalt künstlerischer Gruppenarbeit

Die Sorgen für einen Moment vergessen dürfen, vertrauensvoll über sich reden und Emotionen äußern zu können.

Ich hatte zur Vernissage ein gemeinschaftlich hergestelltes Bild mitgebracht. Der Pfarrer schlug vor, es auf den Altar zu legen, es passte genau auf den großen Tisch in der Kirche.

Solche Bilder haben für die Gefangenen eine große Bedeutung, denn alle malen  zusammen an einem Bild. Das Bild ist so groß wie ein großer Tisch. Packpapier ist der Malgrund auf dem die Teilnehmer und ich schwarze Kurven mit dem Pinsel ziehen, die sich gegenseitig über kreuzen dürfen. Später füllen wir die Binnenräume mit Farbe, Strukturen, Farbverläufen – kurz allem was uns malerisch in den Sinn kommt – aus. Überall darf verbessert und vervollständigt werden. So wird das Bild ein Gemeinschaftswerk, das spontan aus der Situation heraus entsteht. Alle Teilnehmer sehen, wie etwas unter ihren Augen entsteht, was wir alle zusammen geschaffen haben. und siehe es ist schön!  Die Farben scheinen Seelenkräfte zu nähren und die Stimmung erhellt sich. Beim Malen stehen wir und wechseln die Positionen. Pinsel müssen zwischendurch gereinigt werden, sauberes Wasser geholt und eine angenehme Regsamkeit breitet sich aus.

© Peter Milde

In diesem künstlerischen Prozess können sich die Teilnehmer selbst vergessen und sich auf das hier und jetzt konzentrieren. So entsteht eine vertrauensvoller Runde und offene Gruppenatmosphäre, in der die Gefangenen frei von Angst über sich reden dürfen, beim Spiel lachen und ihre Emotionen im Spiel äußern können …das macht den belastenden Alltag im Gefängnis für die Männer lebbarer. Dazu möchte ich gerne mit meiner Arbeit beitragen.

(Zusammenfassung des Vortrags auf der Vernissage)

September 2018, Eva Leitschuh (Künstlerin und Grafikdesignerin, Gruppenleiterin im „Risk Assessment“)

Die personzentrierte Kunsttherapie bringt Gefühle und Lebenserfahrungen zum Ausdruck

„Die Psychotherapie liefert nicht die Motivation für die Entwicklung oder Entfaltung. Diese ist anscheinend dem Menschen innewohnend, wie die ähnliche Tendenz, sich psychisch zu entwickeln und zu reifen, wenn nur die Mindestvoraussetzungen dafür gegeben sind. Aber die Therapie spielt eine wichtige Rolle bei der Freisetzung und der Förderung dieser Tendenz, sich psychisch zu  entwickeln oder zu reifen, falls sie durch irgendwelche Umstände blockiert wurde.“          Carl R. Rogers         

Die personzentrierte kunsttherapeutische Arbeit mit Untersuchungshäftlingen ist eine wirksame Begleitung der Personen mit dem Ziel der psychischen Stabilisierung und dem Stress- und Spannungsabbau.

Die Kunsttherapie  orientiert sich an den Bedürfnissen der Untersuchungsgefangenen. Es wird keine Richtung vorgegeben und es geht nicht um die Produktion von Kunst – auch wenn Kunstwerke entstehen. Die künstlerischen Arbeiten werden nicht nach kunstästhetischen Aspekten analysiert oder bewertet. So entsteht eine Situation, in der sich die Männer verstanden fühlen und an Selbstwert gewinnen können. Auf diese Weise wird die Selbsterforschung mit kreativen Mitteln unterstützt.

Phantasien und Vorstellungen der Klienten können auf einer bildhaften Ebene dargestellt werden. Innere Konflikte können sichtbar gemacht und so bearbeitet werden. Auch Wut und Ärger oder Angst können so zum Ausdruck kommen. Sie werden auf der symbolischen Ebene ausgedrückt, ohne dass sie sich aggressiv entladen müssen. Durch die kreativ-künstlerische Gestaltung werden Gefühle und Lebenserfahrungen zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig entsteht etwas, auf das die Männer stolz sein können.

Die Konzentration auf das kreative Arbeiten bietet den Vorteil, dass dies einen relativ unbedrohlichen Schauplatz darstellt, in dem die Klienten experimentieren und bisher verborgene Seiten an sich entdecken können. (Außerdem können damit auch Klienten, die über keine oder geringe deutsche Sprachkenntnisse verfügen, erreicht werden). Hierbei ist eine akzeptierende und wertschätzende Haltung der Therapeutin nötigt, denn diese ermöglicht es dem Klient sich unverstellt und authentisch zu verhalten. So schafft die differenziert akzeptierende Haltung einen Raum, in dem die Untersuchungsgefangenen sich in selbstbestimmten, gestalterischen Tun erfahren können.

(Zusammenfassung des Vortrags auf der Vernissage)

September 2018, Inga Creter (Personzentrierte Kunsttherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Logotherapeutin und Gruppenleiterin im „Risk Assessment“)

Reflexionen  über  kunsttherapeutische Verläufe  in der Krisenintervention

1. Betrachtungen der  Kunsttherapeutin zu Klient X

Als X mir zum ersten Mal vorgestellt wurde, war er der Erste, der an diesem Tag in die Gruppe kam. Man konnte mit einem Blick sehen, dass es diesem Menschen sehr schlecht ging. Er sah unausgeschlafen aus und wirkte sehr nervös.

Ohne große Umschweife erzählte er, dass er seine Freundin umgebracht hatte. Dies war ungewöhnlich, da die meisten Männer erst einmal nichts von dem Haftgrund erzählen und ich auch nicht danach frage.

Bild in der ersten Therapiestunde © Inga Creter

Er berichtete weiter, dass er sich an die Tat nicht erinnern kann, sondern erst zu sich kam als seine Freundin regungslos auf dem Bett lag, er auf ihr kniete und seine Hände sehr wehtaten. Er hatte seine Freundin erwürgt. Er erinnerte sich, dass zuvor ein Streit war. In dessen Verlauf hatte die Freundin X vorgeworfen, er sei genau so schrecklich wie sein Vater. Das muss in ihm eine riesige Wut ausgelöst haben. Nach der Tat irrte X einen halben Tag in der Gegend herum, bis er sich selbst stellte.

Auf die Frage, warum er es so verletzend empfand, mit seinem Vater verglichen zu werden, erzählte mir X: Er sei von seinem Vater als kleiner Junge misshandelt und missbraucht worden. Der Vater habe ebenfalls die Mutter ständig geschlagen, auch als sie schwanger war. Deshalb sei eine seiner Schwestern geistig behindert zur Welt gekommen. X konnte dieser Hölle entkommen. Für die Mutter und die Schwestern gab es keine Hilfe. Vor einigen Jahren sei dann die Mutter die Treppe im Haus herunter gestürzt. Er glaube aber, dass der Vater sie herunter gestoßen habe.

Horrorgeschichten hören wir immer wieder. Die Art wie diese Geschichte erzählt wurde, beeindruckte mich sehr. Während X erzählte, hatte ich den Eindruck, als würde er in einen Strudel hineingezogen werden, dem er nicht entkommen konnte. Der Strudel schien alles mit sich zu reißen in eine Vergangenheit, die näher als der jetzige Augenblick schien.  

Fantasiebild „Zum sicheren Ort“ © Inga Creter

Viele Wochen lag X in der kameraüberwachten Zelle, was bedeutete, dass Tag und Nacht das Licht brennt. Er hatte immer wieder Halluzinationen, in denen sein Vater plötzlich in der Zelle stand. Ich erlebte ihn öfter in einem tranceähnlichen Zustand, bei dem ich nicht wusste, in welcher Realität er gerade lebte. Er hatte große Schwierigkeiten, mit anderen Männern in Kontakt zu kommen. Männern konnte er nicht vertrauen.

Das ganze Team der Abteilung im Gefängnis war sehr engagiert  und froh, als er aufhörte, sich selbst zu verletzen.  Schließlich war er stabil, so dass er als „Hausarbeiter“ eingesetzt werden konnte. In den Gruppen war er derjenige, der uns half, den neu dazu kommenden Männern den Weg in die Gruppe zu erleichtern. Dank seiner Willenskraft hat er auch den für ihn furchtbaren Prozess überlebt. Nach seinem Ausscheiden aus der therapeutischen Gruppe habe ich X alle zwei Wochen noch ehrenamtlich betreut. Inzwischen kann er um seine Freundin, die er immer noch sehr liebt, trauern. Sein Vater ist inzwischen gestorben.

X wird in den nächsten Wochen in eine andere JVA zum Strafvollzug verlegt. Es bleibt nur zu hoffen, dass er dort die Möglichkeit findet, sich mit seinem inneren Vater auseinander zu setzen. Er ist dazu bereit. Es ist aber keineswegs sicher, dass er dazu die nötige therapeutische Unterstützung erhält.    

(Vorgetragen auf der Vernissage)

September 2018                 Inga Creter

2. Beispiel eines gelungenen therapeutischen Prozesses

X konnte sich bereits in der ersten Gruppensitzung auf die Begegnung mit der Therapeutin und auf die Betrachtung seiner Probleme und Konflikte einlassen. Er war dankbar für den zur Verfügung stehenden Raum, die bereit stehenden gestalterischen Mittel und die angebotene therapeutische Beziehung. So konnte X sich den in der Krisenintervention gemachten Erfahrungen und Selbsterfahrungen ohne Ängste stellen.

Die Bilder von X sind gerade auch ein Beispiel dafür, dass ihr Nutzen im kunsttherapeutischen Geschehen nicht vorrangig im ästhetischen Kunstgenuss liegen, sondern dass die künstlerische Kreativität in der Therapie Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringt,diese widerspiegelt und diese dem Klient damit bewusst werden und der kreative Prozess dadurch entwicklungsfördernd und heilend wirken kann.

Zentral hierfür ist eine angstfreie therapeutische Beziehung, die es X ermöglichte im Verlauf der therapeutischen Beziehung sich seiner Konflikte und Probleme im  Selbsterleben (Inkongruenzen, Abwehrverhalten, Abspaltungen) und in der Selbstbewertung (fehlender Lebenswille, Zusammenbruch des Selbstbilds, Todeswunsch) gewahr zu werden, sich darüber mitzuteilen und sich so damit auseinander zu setzen.

Durch die Gruppenaktivitäten und das akzeptierende, achtende und emphatische Eingehen der Gruppenleiterinnen auf das krisenhafte Erleben konnte X dann selbst in einem längeren Prozess wieder zunehmend Selbstachtung und Selbstempathie erleben und zulassen. Im Verlaufe einer längeren Entwicklung konnte er Abwehr, Entfremdung und Inkongruenzen abbauen und wieder Selbstvertrauen in die eigenen psychischen Ressourcen und Kräfte entwickeln. Momente des Selbstwerterlebens und des Lebenswillens nahmen zu und X konnte die suizidale Krise überwinden. Dieser Prozess verlief über mehrere Monate und keineswegs gradlinig, sondern X erlebte immer wieder schwere psychische Rückschläge mit Selbstverletzungen, jedoch gelang es ihm, die im Zusammenhang mit dem Tötungsdelikt ausbrechende Lebenskrise zu überwinden und er konnte für die vor ihm stehende lange Zeit der Strafverbüßung wieder Lebenswille, Mut, Hoffnung und Zuversicht erlangen.

September 2018                              Dr. Peter Milde

3. Reflexionen über drei weitere kunsttherapeutische Kriseninterventionen

Herr A:

Beim ersten Gruppentreffen wirkte Herr A sehr nervös. Er hatte beim Reden immer ein Feuerzeug in einer Hand, mit dem er herumspielte. Er berichtete über massive Schlafstörungen und dass er dringend Psychopharmaka benötige. Er erzählte von Kriegserfahrungen und klagte über körperliche Verletzungen, die ihm bis heute das Leben zur Hölle machten.

Lebenslinie © Peter Milde

In der dritten Stunde malte er seine Lebenslinie (Lebenslauf). Ein Pastellbild, in dem sich zu seinem eigenen Erstaunen viele helle, freundliche Farbtöne fanden. Er stellte fest, dass diese Farben sein dennoch vorhandenes Vertrauen ins Leben symbolisieren.

Das nächste Bild, das er malte, war  „ein Wunschbild“. Es stellte sein Haus dar. Dabei erzählte er von vielen glücklichen Momenten seines Lebens.

In der nächsten Stunde war er „wütend und verzweifelt“ – wie er selbst sagte. Er wirkte angespannt, redete schnell und laut. Er arbeitete mit Ton und erzählte dabei über die Konflikte mit seiner Frau. Er äußerte, dass er manchmal Angst vor seinen Aggressionen habe. Am Ende der Stunde wirkte er wieder sehr entspannt. Er hatte ein Herz geformt.

In der letzten Stunde malte er mit Plakatfarben auf  großes Packpapier. Es ist ein bunter Regenbogen. Ganz groß malte er seinen Kosenamen, mit dem ihn seine Mutter gerufen hatte, dazu.

Schlafstörungen  waren im Verlauf der Treffen immer seltener ein Thema.  Stattdessen entwickelte er Zuversicht und Selbstvertrauen.

Herr B:

Drei Stunden saß Herr B angespannt da und sprach nur auf direktes Nachfragen. Er wirkte sehr verstört und gehemmt. Er war gar nicht richtig da. Seine kreativen Arbeiten wirkten reduziert und zurückgenommen. Die anderen Häftlinge aus der Gruppe versuchten ihn aufzumuntern. Mich erstaunte dabei die einfühlende Art und Weise ihrer Angebote. Am Ende einer Stunde meinte Herr Y: „Der Herr B kommt schon noch. Ich war am Anfang auch ganz fertig.“

Baum als Selbstbildnis © Peter Milde

In der vierten Stunde malten die Klienten mit geschlossenen Augen einen Baum. Ich spielte Musik dazu. Auf diese Übung konnte sich Herr B einlassen. Er malte dann auch mit offenen Augen konzentriert an seinem Baum weiter. In dieser Stunde erzählte er zum ersten Mal etwas über sich. 

In der  fünften Stunde wollten die U – Gefangenen  frei Karten zum Verschicken (Collagen aus Zeitungsmaterial) gestalten. Herr B produzierte viele Karten in dieser Stunde. Er hatte sichtlich Vergnügen daran. Dabei erzählte er, dass er immer versucht „das Besondere im banalen Bild zu finden.“

In der sechsten Stunde ging es darum, ein Selbstportrait erst mit geschlossenen Augen zu zeichnen und dann mit offenen Augen fertig zu stellen. Herr B malte mit erstaunlicher Sicherheit. Im Gespräch mit mir wollte er mir etwas anvertrauen. Er brach dies dann aber ab. Ich hatte das Gefühl, dass ihm die Gegenwart der anderen Gruppenmitglieder unangenehm war.

Herr C:

Als Herr C in die Gruppe kam, wirkte er äußerst verstört. Er traute sich nicht aus seinem Haftraum heraus. In der Gruppe grenzte er sich ebenfalls ab. Aufschneiderisch erzählte er, dass er in seiner Heimatstadt eine wichtige Position inne habe und dass ohne ihn jetzt das Chaos ausbreche. Außerdem war er es gewohnt, täglich im Lokal gut zu essen und fand die Verpflegung unerträglich. Die anderen Gruppenmitglieder ließen sich aber von seiner Art nicht abschrecken oder waren beeindruckt und so kam man sich über das Schimpfen über den „Gefängnisfraß“ näher.

Schon in der ersten Stunde bat Herr C um ein Einzelgespräch. Er erzählte, dass er wegen Missbrauchs an minderjährigen Jungen, einer Sache, die viele Jahre zurück liegt und er damals als Jugendlicher eine Kindergruppe leitete, in U-Haft sitze. Nein, so beteuerte er unter Tränen, er sei nicht pädophil. Man hatte bei ihm vor Jahren das „Peter-Pan-Syndrom“ diagnostiziert. Er hätte nie mit einem Jungen richtigen Sex gehabt. Man konnte aber deutlich heraus hören, dass er nicht sicher war, ob er sexuell „normal“ sei. Die Scham über die Sexspiele mit den Kindern lastete erdrückend auf ihm. Er konnte sich der Sache jedoch noch nicht wirklich stellen.

Im Laufe der Behandlung stellte sich heraus, dass er sich sehr um seine Mutter sorgte. Ihr ginge es sehr schlecht und er fühlte sich verantwortlich. Es stellte sich heraus, dass er das Gefühl,  Verantwortung für die Mutter übernehmen zu müssen, gut kennt. Er war derjenige, der früher den Vater volltrunken aus der Kneipe abholte und der die Mutter tröstete, als der Vater gepflegt werden musste. Als kurz nach dem Tod des Vaters die Oma tödlich erkrankte, half er bei der Pflege mit.

In der Gruppe war er bald integriert und wurde wegen seiner kommunikativen Fähigkeiten, neue Gruppenteilnehmer zu integrieren, von den anderen Männern bewundert. Während seiner Verhandlung erlitt er Rückfälle und ging nicht mehr aus der Zelle. Er wurde verlegt und medikamentös behandelt. Nun werden allerdings Untersuchungshäftlinge, die wegen Missbrauchs in die U-Haft kommen, von anderen Häftlingen tatsächlich gemobbt und bedroht. Durch das große Engagement der Mutter, die sicherlich selbst unter schweren Schuldgefühlen ihrem Sohn gegenüber litt, kam Herr C schnell in die Sozialtherapie zur Behandlung. Seit Beginn der Therapie geht es ihm stetig besser, wie ich sporadischen Briefen entnehmen konnte. Für ihn war es eine riesen Erleichterung, als nicht pädophil eingestuft zu werden.

Mein Interesse galt Herrn C auch deshalb, weil ich auch Opfer sexueller Gewalt behandle. Auffällig ist, dass Täter wie Opfer sich schwere Vorwürfe machen, sich schmutzig oder beschmutzt fühlen. Beide Gruppen haben anscheinend extreme Angst vor Kontrollverlust. Während der Täter, die Täterin, die Verantwortung für seine, ihre Schuld übernehmen muss, ringen die Opfer sexuellen Missbrauchs mit der Angst vor ihrer Wut. Beide Gruppen bedürfen einer tiefgreifenden Aufarbeitung des Geschehenen.      

2018                     Inga Creter

Weiterführende Literatur:

Peter Milde:  Sozialpädagogik mit männlichen Gefangenen im Spannungsfeld von aktueller Betreuung, Resozialisierung und Therapie.
Pädagogik im Gefängnis statt ‚Gefängnispädagogik‘ – theoretische Überlegungen und Erfahrungen

584 Seiten, Frankfurt am Main 2013,
ISBN 978-3-943059-05-2 – 49,80 Euro,
Bestellungen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag: protagoras-academicus@gmx.de

Abstract

Im ersten Teil der Studie wird ein geschichtlicher Abriss über den Diskurs der Strafe in Philosophie und Theologie vorgestellt. Dokumentiert und diskutiert wird die Entwicklung von den Naturreligionen über die frühgriechische und jüdische Philosophie und Theologie, die christliche und germanische Straftheorie und den „peinlichen“ Strafen des Mittelalters über die Entstehung einer „bürgerlichen Straftheorie“ bis zu deren Kritik von Marx über die Kritische Theorie bis Foucault. Auf dieser Grundlage werden die Sozialpädagogik mit ihren Facetten von Binding, Liszt bis Nohl und die reformerischen Überlegungen der Weimarer Republik zusammengefasst, um dann den Ansatz von Fritz Bauer auch als grundlegenden Ausgangspunkt der eigenen sozialpädagogischen Praxis des Autors in Gefängnissen vorzustellen.

Im zweiten Teil erfolgt eine vielschichtige Behandlung der Realität des Gefängniswesens ausgehend von einer empirischen Darstellung des Problems in einem Land wie Deutschland über seine historische Entwicklung in der Weimarer Zeit, der NS-Zeit und den Gesetzen, Richtlinien und Praxen des Strafvollzugs in der Bundesrepublik bis hin zur kriminologischen Betrachtung der negativen destruktiven Wirkungen der Gefängniskultur und Gefängnissubkultur.

Auf dieser Grundlage wird nun im dritten Teil in drei Fallstudien die eigene sozialpädagogische Praxis mit Gefangenen auf der Basis des personzentrierten Konzepts der Beratung von Carl Rogers rekonstruiert und als Alternative zum offiziellen Resozialisierungskonzept und Alltagsverständnis von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zugespitzt. Die erste Fallstudie behandelt die Veränderung des Milieus durch eine Wohngruppenkonzeption. In der zweiten Fallstudie wird über einen längeren Zeitraum (17 Gruppensitzungen einer personzentrierten Gruppenberatung) der Focus auf die Dynamik von Individuum und Gruppe zur Reifung und Veränderung der Persönlichkeit gelegt. In der dritten Fallstudie wird nach grundlegenden Überlegungen zur Suizidforschung und Suizidprävention die eigene Arbeit in der Krisenintervention und Suizidprävention bei suizidgefährdeten Gefangenen dargestellt und evaluiert, die neben gruppendynamischen insbesondere auf kunsttherapeutischen und kunstpädagogischen Interventionen aufbaut.

Ohne aus dem Dilemma von vorgegebenen Strukturen und humanistischem Anspruch ausbrechen zu können, wird im Fazit die Problematik einer Sozialpädagogik in Gefängnissen als Vorbereitung auf das Leben außerhalb des Gefängnisse, aber auch als Hilfe während der Gefängniszeit zusammengefasst – im Bewusstsein, dass es zu den Kernproblemen des Berufs des Sozialarbeiters gehört, große Strukturen, die absehbar nicht zu ändern sind, klar zu durchschauen und trotzdem einer am Individuum orientierten konkreten Hilfestellung nicht aus dem Weg zu gehen.

Über den Autor:

Peter Milde, geboren am 14. April 1953 in Frankfurt am Main, Studium der Sozialarbeit an der Fachhochschule Frankfurt am Main und seit 1989 Diplom-Sozialarbeiter in verschiedenen hessischen Gefängnissen, promovierte 2012 am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt am Main.

Das von dem Autor seit 2006 entwickelte und in der JVA Weiterstadt und der JVA Frankfurt am Main I zusammen mit einem Team umgesetzte Konzept einer Personzentrierten Krisenintervention und Suizidprävention bei Gefangenen erhielt von der Bundesarbeitsgemeinschaft Suizidprophylaxe im Justizvollzug den Suizidpräventionspreis 2014 verliehen.

Ausblick:

FIPS NEWS Nr. 2 wird einen Einblick geben in die politische Bildungsarbeit der „Wilden Rose e.V.“, Interkulturelles Jugendnetzwerk im Bund Deutscher Pfadfinder_innen (BDP), zu den Verbrechen der NS-Besatzer in Griechenland von 1941 – 1944. Die Relevanz dieser politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen heute ergibt sich zum einen aus der Solidarität mit den Opfern, ihren Nachkommen und den Überlebenden dieser ungesühnten Verbrechen. Zum anderen ist die erste Forderung an Erziehung und Bildung jeder jungen Generation in Deutschland, aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen, Allem und Allen entgegenzutreten, was zu einer Wiederholung solcher Verbrechen führen kann.

FIPS NEWS Nr. 3 wird das Thema von FIPS NEWS Nr. 1 vertiefen und hierzu einige Artikel und Vorträge zur Konzeption der Personzentrierten Krisenintervention und Suizidprävention mit Gefangenen veröffentlichen.

8. April 2019 Dr. Peter Milde

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