FIPS NEWS Nr. 10: Radio Darmstadt: Reportage zur Krisenintervention und Suizidprophylaxe bei Untersuchungsgefangenen (2. Teil)

Editorial

In FIPS NEWS Nr. 10 veröffentlichen wir die zweite Hälfte der Abschrift der Reportage von Radio Darmstadt vom 3.8.2010 über das personzentrierte Konzept und die Praxis der therapeutischen Behandlung von suizidgefährdeten Gefangenen. In diesem zweiten Teil geht es vorwiegend um die Erfahrungen, die die Therapeutinnen in den therapeutischen Beziehungen mit den Gefangenen aber auch mit der Institution Gefängnis und ihren dort Beschäftigten machen.

Wir werden auch künftig in unseren Newslettern auf das Thema Krisenintervention und Suizidprävention weiter eingehen.

15.12.2019          Dr. Peter Milde

Radio Darmstadt: Reportage vom 3.8.2010 zur Krisenintervention und Suizidprophylaxe bei Untersuchungsgefangenen in der JVA Weiterstadt (2. Teil)

Aus der Sendereihe „Leben hinter Gittern“.

(Interviewer: Arnold Messer – freier Mitarbeiter bei Radio Darmstadt).

Musikbeitrag:

Ausschnitt aus dem Kinderlied „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder“.

Interviewer:

Das Stichwort „risk assessment“ bei Google löst eine Reihe Links und Hinweise aus, z.B. Tools zur Risikobewertung und zu Risikomanagement, Bankberatung, gesundheitliche Risiken, z.B. koronare Erkrankungen, Brustkrebsvorsorge und vieles mehr in dieser Art. Erst mit dem zusätzlichen Hinweis – Weiterstadt JVA – oder auch – Suizid – erreicht man die Projektgruppe und kann sich über ihre Arbeit informieren. Wir fragen uns und wir fragen die Projektgruppe, warum dieser englische Begriff, der dazu noch mehrdeutig ist.

Peter:

Ja, das ist eine ganz lustige Geschichte, weil wie es zu dem Namen kommt, hängt auch damit zusammen, wie überhaupt dieses Projekt, diese Krisenintervention als Einrichtung hier entstanden ist. Ursprünglich ist ein Besuch von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Anstalt in verschiedenen Anstalten in England gewesen. Dort hatten sie risk assessment  als Risikobewertung von Gefangenen kennengelernt, die selbstgefährdet sind, aber auch fremdgefährdend. Dort gab es ein Management zur Einschätzung und Beurteilung dieser Gefangenen und auch wie man mit diesen Gefangenen umgeht. Dann sind die Kolleginnen und Kollegen wieder zurückgekommen, auch die damalige Anstaltsleiterin, und sagte, das wäre etwas, das wir auch hier umsetzen können. Und daraufhin haben wir hier in der Zugangsabteilung überlegt, wie könnten wir so etwas für uns, für unsere Verhältnisse und auch zugeschnitten auf die Untersuchungshaft und auf die Bedürfnisse, die wir hier haben, umsetzen. Und so ist dieser Name übernommen worden erst einmal und die  Idee geboren worden, dies hier zu installieren. Mittlerweile sagen wir auch Kriseninterventionsprojekt oder Krisenintervention.

Christel:

Oder wir sprechen einfach vom Projekt.

Interviewer:

Das Projekt gibt es seit 2006. Sicherlich wie jedes neue Projekt war es mit gewissen Anlaufschwierigkeiten verbunden. Inga Creter erinnert sich.

Inga:

Also der Anfang war hier eher schwer gewesen. Oh, wir wurden erst schon, „was wollen die denn da“, beäugt und es gab dann auch z.T. Namensgebungen für die Gruppe, die alles andere als förderlich war, „Kuschelgruppe“ und so einiges. Wir haben allerdings auch kennenlernen können, dass über die Jahre – wir sind ja jetzt schon einige Zeit hier – doch auch ein bisschen Neugier auf uns zukommt, dass man halt auch sich fragt, vielleicht bringt es ja doch etwas.

Interviewer:

Inzwischen erfahren die Projektmitglieder sehr viel Wertschätzung. Sowohl von Seiten der Anstaltsleitung als auch der übrigen Bediensteten der JVA.

Inga:

Erst mal hat sich einfach dadurch was getan, dass die Gefangenen, die im Projekt waren, sich angenehmer verhalten haben, d.h. im Ablauf vom Tag konnte man sie auch als Hausarbeiter besser einsetzen, man konnte mit ihnen reden, ja es ist einfacher mit ihnen umzugehen. Die haben nicht gleich dieses Abwehrverhalten und das macht das Arbeiten, das miteinander Arbeiten zwischen den Beamten und den Untersuchungshäftlingen viel einfacher. Und das ist einfach spürbar.

Christel:

Wir treffen ja auch die Beamten und sprechen manchmal darüber, was wir heute gemacht haben und wer da war und da ist auch mit der Zeit eine zunehmende Akzeptanz. Wir haben alle paar Wochen eine Konferenz hier von allen die am Projekt teilnehmen. Oft ist dann auch ein Beamter mit dabei.

Eva:

Also wir werden immer gebracht und dann gehen wir ein Stück mit einem von den Beamten einen Weg in der JVA und manchmal ergibt sich da auch ein Gespräch und ein Austausch und manchmal auch nicht.

Foto: privat

Interviewer:

Das Projekt ist unbestreitbar erfolgreich, betont Peter Milde. Für den Erfolg des Projektes gibt es zwei wesentliche Hinweise. Einmal wird zu Beginn und am Ende des Kurses bei jedem ein Fragebogen erhoben. Die Selbsteinschätzung ist am Ende der Periode deutlich positiver als am Anfang. Zum anderen hat bisher kein Kursteilnehmer einen Suizid oder Suizidversuch unternommen. Das war den Projektmitgliedern zu Beginn des Projektes natürlich noch nicht bekannt. Was hat sie im Einzelnen zu dieser Aufgabe geführt? Und vor allem was hält sie nach wie vor dabei?

Eva:

Bei mir war das, dass es auf mich zukam. Es hat mich einfach jemand angesprochen. Und dann habe ich mich damit auseinandergesetzt. Da sagt man nicht gleich, ja, mach ich, toll, sondern da prüft man sich erst mal, schaff ich das, will ich das, macht es für mich Sinn. Es ist eine Begegnung mit Menschen, die in der Krise sind, da ist ganz viel Ehrlichkeit, ganz viel Offenheit und das erweitert meinen Horizont an Menschenbiographien ungemein. Also man kann eigentlich nicht sagen, das sind solche Menschen, sondern da gibt es eine unglaubliche Vielfalt und ich denke, dieses Projekt macht richtig viel Sinn, um den Menschen hier zu helfen und ich bin froh, dass ich einen Bereich in meinem Leben habe, wo ich wirklich eine soziale Arbeit leiste. Hier geht es darum, Menschen zu ermöglichen, in Verbindung zu sein. Dass die Gefangenen die Möglichkeit haben in sechs Wochen zu üben, in Verbindung zu sein, wo sie doch abgeschnitten sind, extrem abgeschnitten von ihrem vertrautem sozialen Umfeld. Und wenn dieser Kurs nicht wäre, dann wäre Verbindung nicht möglich.

Inga:

Ich erlebe so, dass ich helfen kann, Das tut unheimlich gut. Es ist für mich auch so, dass mein ganz persönlicher Horizont erweitert wird, immer neu erweitert wird. Manchmal kommt man dann auch an die eigenen Grenzen, fragt sich, möchte ich mich damit noch auseinandersetzten oder möchte ich da die Tür zu machen und sagen, nein.

Christel:

Eine Erfahrung von mir ist, dass man mit der Zeit diese Gefangenen hier gar nicht mehr als die anderen so sehr in dem Maß erlebt, wie das meistens getan wird, dass ich diese Menschen mit ihren sympathischen Eigenschaften, wie sie sich freuen können und untereinander hilfsbereit sind, erleben kann, dass sie also diese Tat hinter sich haben, aber auch diese andere Seite haben.  Ich spalte dann den Menschen, dem ich begegne, nicht so auf in die Guten und die Bösen.

Interviewer:

Auch auffällig ist die Freude und die aus der Arbeit resultierende Zufriedenheit wird von den Mitarbeiterinnen stärker betont und wahrscheinlich auch tatsächlich stärker, d.h. intensiver empfunden als Belastungen und zwischendurch auftretende Probleme.

Foto: privat

Inga:

Ja, wir setzen uns damit auseinander und müssen uns fragen, kann dies nur mit diesem anderen Menschen, mit dieser speziellen Sozialisation passieren, hätte mir das auch passieren können.  Verteufele ich diesen Menschen deshalb, versetze ich mich in seine Lage hinein. Wir sind ja keine Richter – zum Glück – wir müssen die Bewertung nicht übernehmen, wir müssen nur eine eigene innere Bewertungsinstanz immer wieder konsultieren und uns fragen, kann ich diesen Menschen erst einmal so als Menschen akzeptieren, wenn ich ihn als Täter nicht akzeptiere. Die Tat nicht akzeptiere. Und da gibt es schon so einen Spannungsbogen, wo ich schon spüre, da macht man auch einen Spagat. Bisher war aber dieser Spagat immer sehr lehrreich für mich. Ich bin gestärkt daraus gegangen.

Peter:

Und man muss den Personen gerecht werden, aber es nützt wenig, wenn wir jetzt Vorwürfe machen würden. Wenn wir uns als Richter aufspielen würden, das würde in unserer Situation, in unserem Kontakt zu der Person uns nicht weiterbringen.

Interviewer:

Was immer als Belastung erlebt wird, es kann regelmäßig im Team besprochen werden. Die Belastung kann dadurch in Grenzen gehalten, bzw. abgebaut werden.

Christel:

Es ist eine ganz große Bereicherung, dass wir hier ein Team sind, dass wir hier im Kollegium zusammen arbeiten.

Eva:

Ich habe fast das Gefühl, ich komme mit euch da herein. Ich weiß, da gibt es noch die anderen, die dafür sorgen, dass die Regeln eingehalten werden oder die ein Gespräch führen. Ich habe neulich den Gefangenen gesagt, ich bin diejenige, die heute  mit Ihnen zeichnet oder malt. Also da können die sich dann auch darauf einlassen und das ist schön – diese Vielfalt.

Christel:

Wir treffen uns auch im Eingangsbereich, wo wir warten, dass die Beamten und holen. Wir rufen uns an, manchmal gehen wir auch in das Cafe Bellevue und setzen uns hin und tagen da und sind zusammen.

Eva:

Auch wenn wir uns Sorgen machen um einen Gefangenen. Sei es Krankheit oder wenn er sich schwierig benimmt, wie händelt man das. Damit man vorbereitet ist morgens und weiß, was jetzt Sache ist, was war gestern. Das ist das Tolle, Montag, Dienstag bis Freitag, wenn es brennt, kann man anrufen und fragen, wie ist es bei dir jetzt gelaufen oder Achtung, da ist diese Schwierigkeit. Das ist genial.

Peter:

Weil wir diese Offenheit in der Arbeit haben, haben wir auch diese Offenheit und das Verständnis füreinander als Betreuer. Also ohne das eine, würde es auch das andere nicht geben. Und dadurch versteht auch jeder sich als ein Teil von der Gesamtarbeit und das ist einfach wichtig, um uns gegenseitig zu stützen und dass wir uns bei unseren eigenen Probleme, die wir mit der Arbeit haben können, da gegenseitig stützen. Aber auch wissen, wie entwickelt sich der eine oder andere Gefangene weiter, wie nimmt dies jeder von uns wahr. Nimmt es jeder gleich wahr oder anders und wie können wir unsere Arbeit noch verbessern. Und das ist sozusagen unser aller Anliegen und dadurch verstehen wir uns auch so gut.

Interviewer:

Und wenn man im Team keinen zum Reden hat, kann man dann auch mit Freunden oder dem Partner zuhause über bestimmte Dinge reden.

Peter:

Naja, Namen und Daten sollte man nicht unbedingt weiter geben, Aber natürlich, wenn einem etwas bedrückt, dann kann man das auch mit Partner, Frau oder Freundin auch besprechen, dann ist so etwas schon möglich. Also ich persönlich kann es mittlerweile ganz gut, dass ich sagen kann, das lasse ich hier und ich habe meine Ansprechpartner, mit denen ich das bespreche, die habe ich einfach hier.

Interviewer:

Doch reden allein, ist nicht die einzige Möglichkeit,  mit Belastungen fertig zu werden. Jeder aus dem Team hat offensichtlich die für ihn passende Verarbeitungsmöglichkeit gefunden.

Eva:

Man nimmt das schon mit, es arbeitet in einem. Aber sonst würden wir die Arbeit auch nicht machen. Irgendwie tariert man dies auch wieder mit seinem Leben aus. Ich will dies ja mit meinem Leben in Verbindung bringen. Wenn ich dann durch die Straßen gehe – Mensch das könnte doch – man sieht die Menschen mit anderen Augen, wenn man so eine Arbeit macht. Es macht was mit einem. Das ist mir recht. Aber deshalb muss ich nicht mit jedem darüber reden.

Inga:

Also ich habe für meine Person festgestellt, dass es mir gut tut aufzuschreiben, was mich belastet. Da ich ja selber auch viel Gespräch führe, merke ich auch, ich brauche trotzdem noch regelmäßig eine Supervision.

Interviewer:

Peter Milde ist sich sicher, man muss nicht selbst Suiziderfahrungen gemacht haben, um andere vor einem Suizid bewahren zu können, aber Lebenserfahrung und eine reife Persönlichkeit sind schon wichtig. Und neben der Empathie braucht der Einzelne die professionelle Distanz.

Foto: privat

Peter:

Das ist richtig. Das ist auch ein wichtiger Aspekt. Es ist auch, glaube ich, bei der Arbeit mit den schwierigen Personen ganz gut, wenn man auch schon ein bisschen Lebenserfahrung hat. Es ist nicht so gut, wenn man jetzt sein Abi gemacht hat und studiert und kommt als erstes in so ein Arbeitsfeld und wird mit so schweren Krisen und Personen konfrontiert, die doch sehr an ihrem Leben zu knapsen haben und an ihrer Lebensperspektive. Natürlich soll es auch eine professionelle Haltung sein, die man einnimmt, d.h. auch da muss man sich hüten, vor so einer Gefühlsansteckung. Wenn da ein Problem auftaucht, dann muss man es besprechen. Aber empathisch zu sein, wertschätzend  zu sein, den Menschen anzuerkennen, d.h. nicht dass ich mich sozusagen jetzt reinsaugen lasse, was er erlebt und fühlt und darin aufgehe und solidarisiere mich mit allem, was er da denkt und fühlt. Da muss klar eine Distanz da sein, das ist ganz wichtig, um mich selbst zu schützen, aber natürlich ist auch klar, ich kann dem ja gar nicht helfen, wenn ich das gleiche erleben würde, wie er.

Interviewer:

Peter Milde fasst zusammen und das klingt nun sehr selbstbewusst und überzeugend.

Peter:

Ich denke, wir machen eine gute Arbeit und das wird auch geschätzt sowohl was die Anstalt als Leitung anbelangt als auch was die für die Behandlung Zuständigen im Ministerium anbelangt. Also es ist eine Ausstellung „Kunst im Knast“ im hessischen Sozialministerium und da werden alle Anstalten, die Kunstprojekte machen, oder wie wir ein Kunstprojekt mit einem Präventionsgedanken dahinter, die Möglichkeit haben, sich zu präsentieren und da sind wir auch mit eingebunden. Und von daher ist eine Wertschätzung unserer Arbeit sozusagen auch von den Geldgebern, den Auftraggebern da und es liegt auch an uns, unsere Arbeit nach außen zu vermitteln und zu sagen, „wir machen etwas Gutes“. Nicht nur etwas Gutes zu tun, sondern auch darüber zu reden, das ist eben auch wichtig.

Interviewer:

Geredet haben wir heute mit Peter Milde, Leiter der Gruppe „risk assessment“ an der JVA Weiterstadt und seinen Mitarbeiterinnen Inga Creter, Eva Leitschuh und Christel Werner-Yeboah. Ihnen allen herzlichen Dank und viel Freude weiterhin bei ihrer wichtigen Arbeit.

Schließgeräusch.

Musik.

Ende

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