Juli 2021 – FIPS-NEWS NR. 35: WAS IST MIT DEN KINDERRECHTEN?

Editorial

Proteste von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren werden in der Gesellschaft kaum ernst genommen. Egal um welches Thema es sich handelt: Ökologie, Wahlrecht, Bildung, politische Mitwirkung, Anti-Rassismus, usw. Kurzfristig finden Kinder und Jugendliche zwar Gehör in der Politik und in den Medien, doch dies versandet in der Regel wieder.

Klima und Umwelt, zerstörende Industrien und Verkehrsmittel, Verödung der Städte, Massenhafte Bebauung von Naturflächen, Verschwendung von Naturreserven, Überdüngung und massenhafter Pestizideinsatz in der Agrarwirtschaft, Agrarfabriken zur Fleischproduktion, Abholzung von Urwäldern, Überfischung der Meere, überflüssiger Einsatz von Kunststoffen, Mikroplastik in Nahrungsmitteln, Massenaussterben von Pflanzen und Tieren usw. – alles auf Kosten der jungen und nachkommenden Generationen.

In Erziehung und Bildung werden Kinder und Jugendliche weitgehend immer noch als unmündig, als Befehlsempfänger und Konsumenten von fertig-produzierten Bildungsinhalten behandelt. Selbstbestimmung und Selbstaktivität von Kindern und Jugendlichen in Schule und Universität bleiben häufig auf der Strecke. Schul- und Unistress, Pauken und ständige Prüfungen sind häufig Ursache von psychischen Erkrankungen, von Versagensängsten und mangelndem Selbstbewusstsein.

Die Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist z.T. katastrophal:1

  • Wegen der Corona-Pandemie waren/sind Universitäten und Schulen monatelang geschlossen. „Lernen zu Hause“ verschlechterte die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus unterprivilegierten Schichten!
  • 4% der Kinder und Jugendlichen waren 2019 vorwiegend wegen Anpassungsstörungen, Depressionen, Angststörungen und emotionalen Störungen in psychotherapeutischer Behandlung. Der Anteil hat sich seit 2009 verdoppelt!
  • 21% der Kinder leben mindestens fünf Jahre dauerhaft oder periodisch in Armut, weitere 10% sind unter fünf Jahren in dieser Lage!
  • Mit 14 Jahren sind Kinder strafmündig und mit 17 Jahren können sie in die Bundeswehr. Für die Teilnahme an der Bundestagswahl und den meisten Landtagwahlen müssen sie jedoch 18 Jahre alt sein!
  • 74% der Kinder aus Akademikerfamilien jedoch nur 21 % der Kinder aus Arbeiterfamilien starten eine Hochschulausbildung!
  • Pro Jahr fast 4.000 Fälle von Misshandlung von Kindern unter 14 Jahren!
  • Pro Jahr ca. 1.000 Fälle sexuellen Missbrauchs von schutzbefohlenen Kindern unter 16 Jahren!
  • Pro Jahr ca. 22.000 Fälle sonstigen sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren!
  • 12% der Kinder und Jugendlichen geben an, dass sie selbst Erfahrungen mit Mediensucht gemacht haben!

Es gibt genug konkrete Anlässe und Gründe, dass Kinder und Jugendliche sich für ihre gesellschaftliche Mitwirkung und ihre Rechte einsetzen und von Erwachsenen hierbei Solidarität erfahren, damit sich ihre reale Lage und ihre Zukunftsperspektiven entscheidend verbessern. Eine Diskussion und gesellschaftliches Handel für Kinderrechte ist überfällig.

22. Juli 2021, Dr. Peter Milde

1Quellen: BundesPsychotherapeutenKammer, Bertelsmann-Stiftung, GEW, Deutscher Kinderschutzbund e.V., DKHW Kinderreport 2021

Einblicke in die Pädagogik von Janusz Korczak

Janusz Korczak, seine Mitarbeiterin Stefania Wilcyńka und 200 jüdische Kinder wurden im August 1942 von der SS in das Todeslager Treblinka deportiert und ermordet. Beide begleiteten „ihre“ Kinder freiwillig in den Tod,. Die Kinder marschierten demonstrativ und selbstbewusst als Gemeinschaft in Kenntnis ihres bevorstehenden Todes zum Bahnhof. Janusz Korczak lehnte es gerettet zu werden.

Skulptur „Korczak und die Kinder des Ghettos“, Denkmal von Boris Saktsier, Jerusalem, Yad Vashem, Berthold Werner eigenes Bild, gemeinfrei.

Nach Abschluss seines Pädagogik-Studiums arbeitete Korczak im jüdischen Waisenhaus Dom Sierot in einem jüdischen Armenviertel und Nasz Dom in einem katholischen Arbeiterviertel in Warschau. Korzcaks pädagogisches Hauptwerk „Wie liebt man ein Kind“, erschien erstmals 1919 auf polnisch.1 Hierin formulierte er als erster Pädagoge „Rechte der Kinder“:

  • Das Recht des Kindes auf seine Tod.
  • Das Recht es Kindes auf den heutigen Tag.
  • Das Recht des Kindes, das zu sein, was es ist.
  • Das Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an den Überlegungen und Urteilen der Erwachsenen in Bezug auf seine Person zu nehmen.

Für die demokratische Erziehung und die Beteiligung der Kinder an dem Geschehen in den Waisenhäusern, schuf Korczak demokratische Strukturen: 2

  • Parlament und Vollversammlung, das die Verhaltensregeln beschloss und eine öffentliche Kontrolle über das Heimleben ausübte (z.B. Kontrolle darüber, das kein Kind geschlagen wurde),
  • Kollegialgericht zur Beilegung von Konflikten,
  • Selbstverwaltungsrat zur Regelung von Rechten und Pflichten aller Beteiligten,
  • Heimzeitung, usw. zur Erziehung zur Meinungsfreiheit.

Korczak lehnte es ab, pauschale pädagogische Ratschläge zu geben. Seine Ziele, die er mit seinen Publikationen verfolgte, waren es zum Nachdenken über die Traditionen der Erziehung und über die Vorstellungen von Kind und Kindheit anzuregen und jeden pädagogisch Wirkenden zur Reflektion über sein pädagogisches Handeln aufzufordern.

Auf Erwartungen nach Erziehungsratschlägen entgegnete Korczak:

Das Kind ist wie ein Pergament, dicht beschrieben mit winzigen Hieroglyphen, von denen du nur einen Teil zu entziffern vermagst.“ 3

Korczak ging von den Kindern als einer eigenen Persönlichkeit aus, die es zu erahnen und zu achten gilt. Kinder sind jedoch nicht einfach kleine Erwachsene, sie sind allerdings wie vollwertige Menschen zu behandeln, jedoch gemäß ihren individuellen Fähigkeiten, Erfahrungen und Gefühlen:

Kinder haben eine andere Begriffsskala, einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt.“ 4

Die Seele des Kindes ist so kompliziert wie die unsere, voller ähnlicher Widersprüche, und sie setzt sich ebenso mit der Tragik auseinander: Ich möchte, aber ich kann nicht, ich weiß, was sich gehört, aber ich schaffe es nicht.“ 5

Janucz Korczak empörte sich in seiner Schrift „Das Recht des Kindes auf Achtung“ (1928) über die Rechtlosigkeit, die Ungerechtigkeiten und die Abhängigkeiten der Kinder. Konkret formulierte er:

  • Achtung der Unwissenheit des Kindes,
  • Achtung der Wissbegierde des Kindes,
  • Achtung der Misserfolge und Tränen des Kindes,
  • Achtung des Eigentums des Kindes,
  • Achtung, des Kindes, so zu sein, wie es ist.

In Korczaks Pädagogik nahm der:die Erzieher:in die Rolle eines dialogischen Begleiters ein, die wichtigste Methode war für ihn die Achtsamkeit, das „pädagogische Einfühlen“. Diese grundlegende pädagogische Haltung, die den gängigen Haltungen in Vergangenheit und Gegenwart diametral entgegengesetzt ist, lautete:

„Wir wollen das Kind nicht kneten und ummodeln, sondern wir wollen es verstehen und uns mit ihm verständigen … An die erste Stelle setzen wir das Kennenlernen. Wir müssen vorsichtig und behutsam handeln, uns wachsam in Zusammenarbeit mit den Kindern bilden und erziehen.“ 6

22. Juli 2021, Dr. Peter Milde

Quellennachweise:

1 Korczak, Janusz: Sämtliche Werke, Bände 1-16, herausgegeben von F. Beiner und E. Dauzenroth, Gütersloh 1996-2010;, Bd. 4, S. 7ff.

2 Ebd., 249ff.

3 Ebd. S. 13.

4 Bd. 9, S. 147f.

5 Ebd., S. 99.

6 Korczak, Janusz: Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. 9, S. 207f.

Verwendete Literatur:

  • Friedhelm Beiner: Zum Korczak Jahr 2012, Vortrag in Mainz am 6. August 2012
  • Deutsche Korczak Gesellschaft e.V.: Wer war Janusz Korczak?, https://www.janusz-korczak.de/ueber-janusz-korczak/leben-und-werk/
  • Deutsche Korczak Gesellschaft e.V.: Zeittafel, https://www.janusz-korczak.de/ueber-janusz-korczak/zeittafel/
  • Krahl Krahl-Tümmler: Korczak, Janusz (1878 – 1942), in: Michaela Rißmann (Hg), Lexikon Kindheitspädagogik, Carl Link Verlag, Kronach 2015
  • Liebel, Manfred und Urszula Markowska-Manista, 2018. Pädagogik der Achtung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 22.06.2018 [Zugriff am: 22.07.2021]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/Paedagogik-der-Achtung
  • Cornelia Albrecht, Zur pädagogischen Bedeutung des geschriebenen und gesprochenen Wortes bei Janusz Korczak

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