November 2021 – FIPS-NEWS Nr. 39: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 3)

Editorial

Das Essay “ Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“ wird mit dem 3. Kapitel fortgeführt. Die folgenden Kapitel erscheinen jeweils in den folgenden FIPS-NEWS.

Wir bitten nochmals um Entschuldigung, dass die Veröffentlichung erst jetzt erfolgt.

10. August 2022 Dr. Peter Milde

3. Martin Luthers Judenfeindschaft und das aufstrebende deutsche Bürgertum

Die judenfeindliche Hetze der feudal-reaktionären Kräfte in Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts sollte erneut das Mittel werden, die revolutionär-demokratische Bewegung des Bürgertums, der Bauern und der städtischen Plebejer auszuhebeln und auf die Juden abzulenken. Der Teil des deutschen Bürgertum, der dem religiösen Ideologen Luther folgte, kapitulierte vor der feudalen Reaktion. Die Masse der Bauern und Plebejer gingen jedoch der antijüdischen Hetze nicht auf den Leim.

Luthers Traktate „Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“ und „Ein Sendbrief von dem harten Büchlein an die Bauern“ (beide von 1525) sind Zeugnisse der Entwicklung des reaktionären Teils des frühen deutschen Bürgertums und seines Ideologen Luther von einer fortschrittlichen zu einer mit der Reaktion paktierenden Klasse.

In dem zersplitterten feudal-absolutistischen Deutschland hatte der Klassenkampf zwischen den ökonomisch und gesellschaftlich bereits „überlebten“ alten feudalen Kräften und den aufsteigenden neuen bürgerlich-demokratischen Kräften allerdings so seine Besonderheiten.1

Der lutherische Protestantismus begann als eine christlich-humanistische Bewegung, die die gewaltsame Bekehrung der jüdischen Bevölkerung ablehnte und an die offizielle katholische Lesart ihrer „friedlichen“ Bekehrung zu Christen – ganz im Sinne von Reuchlin – wieder anknüpfte.2 Das politische Ziel des Protestantismus, die feudalen herrschenden Klassen der Kirche und in der Gesellschaft von der politischen Macht zu entfernen und durch bürgerlich-protestantische Eliten zu ersetzen, scheiterte jedoch, da Luther auf die „geistigen“ und „geistlichen“ Waffen setzte und den vom Protestantismus mobilisierten breiten Massen der unterdrückten Bauern und Bäuerinnen und Plebejer:innen misstraute.3 Vor allem die Bauern und Bäuerinnen aber auch die armen Schichten in den Städten beschränkten sich nicht auf einen religiös-ideologischen Kampf gegen die Reaktion. Sie stellten antiklerikale und antifeudale Forderungen auf und führten einen politischen und militärischen Kampf für demokratische Rechte, für Befreiung vom feudalen Joch und von ihrer Armut.

Der lutherische Protestantismus hingegen musste, um als Ideologie des deutschen Bürgertums zu überleben, auf Grund seiner ideologischen Beschränktheit, seiner reaktionären religiösen Ansichten4 und seiner politischen Niederlagen zwangsläufig seinen anfänglich humanistischen Standpunkt abstreifen, die revolutionären bäuerlichen und plebejischen Massen verraten und den Kompromiss mit feudalen und absolutistischen Herrschern suchen. Letztere wiederum erkannten in der lutherischen Theologie die passende Ideologie für die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise unter Führung einer absolutistisch herrschenden Aristokratie. Der lutherische Protestantismus entwickelte sich so zu einer spießbürgerlichen Ideologie und zu einer Bewegung des Kompromisses eines großen Teils des deutschen Bürgertums und seiner Ideologen mit Teilen der alten feudalen Reaktion, der Aristokratie und der feudalen Grundbesitzer (Junkertum).5

Nur konsequent war daher auch Luthers Schwenk zum Judenfeind. Luthers Schrift „Die Juden und ihre Lügen“ (1543) fasste erneut alle bisherige judenfeindliche Hetze zusammen und gipfelte darin, den Juden die mystische Macht, „Herren der Welt“ zu sein, anzudichten.6 Luthers Schrift und die protestantischen judenfeindlichen Flugschriften erreichten durch den inzwischen erfundenen Buchdruck auch die einfache Bevölkerung, wenn auch die Meisten Analphabeten waren.

Wie die Bauernkriege in den deutschen Ländern um 1525 und die Jahre danach zeigten, fand die antijüdische Hetze, die Aufforderung zu Vertreibungen und Pogromen an der jüdischen Bevölkerung bei der breiten Masse der deutschen Bevölkerung jedoch nicht den von der Reaktion erwarteten Erfolg.

Fast 100 Jahre später folgte der sog. Dreißigjährige Krieg von 1618 – 1648. Er war ein Krieg der Aristokraten und Könige untereinander, die im Namen des Protestantismus, bzw. des Katholizismus sich gegenseitig Länder in Deutschland raubten und diese dann ausplünderten. In der Bevölkerung hatte zu dieser Zeit Judenfeindschaft geringen Einfluss, da Protestanten und Katholiken im Namen Christi das Land verwüsteten und die Bevölkerung in Elend stürzten.

(Fortsetzung folgt).

30.07.2022 Dr. Peter Milde

Endnoten:

1 Dass in Deutschland die erste große bürgerliche Revolution stattfand, hatte seine Ursache in dem ökonomischen Aufschwung des Bürgertums in Deutschland, insbesondere in der Dominanz im Bergbau, im Fernhandel und hinsichtlich des monetären Kapitals und des Zunfthandwerks in Europa. Diese Dominanz wurde erst abgelöst durch die im großen Stil möglich gewordene Ausplünderung der kolonialen Eroberungen v.a. durch Spanien und Portugal. Friedrich Engels hatte auf diesen Zusammenhang hingewiesen:

Mir ist dabei erst recht klar geworden (…), wie sehr die Geld- und Silberproduktion Deutschlands (und Ungarns, dessen Edelmetall dem ganzen Westen via Deutschland vermittelt wurde) das letzte treibende Moment war, das Deutschland 1470 – 1530 ökonomisch an der Spitze Europas stellte und damit zum Mittelpunkt der ersten bürgerlichen Revolution, in religiöser Verkleidung der sog. Reformation, machte. Das letzte Moment in dem Sinn, dass es zu der relativ hohen Zunfthandwerks- und Zwischenhandelsentwicklung kam und damit für Deutschland gegenüber Italien, Frankreich, England den Ausschlag gab.“ (Friedrich Engels, Brief an Karl Kautsky, 15. September 1889, MEW Band 37, S. 274).

2 Wie viele andere humanistische Theologen und Gelehrte bekämpfte Luther in seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) die lügnerischen Beschuldigungen gegen Juden, die Talmud-Verbrennung und die gewalttätigen Angriffe gegen die Juden. Wie bereits vor ihm Reuchlin, beabsichtigte Luther die Juden „zu bekehren“:

„Darumb wäre mein Bitt und Rath, daß man säuberlich mit ihnen umbging, und aus der Schrift sie unterrichtet, so möchten ihr etliche herbei kommen. Aber nu wir sie nur mit Gewalt treiben und gehen mit Lügentheidingen umb, geben ihnen Schuld, sie müssen Christenblut haben, daß sie nicht stinken, und weiß nicht weß des Narrenwerks mehr ist, daß man sie gleich fur Hunden hält; was sollten wir guts an ihnen schaffen? Item, daß man ihnen verbeut unter uns zu ärbeiten, handthieren, und andere menschliche Gemeinschaft zu haben, damit man sie zu wuchern treibt; wie sollten sie das bessern?“ (Martin Luther, Sämtliche Werke Band 29, Quelle: https://glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:l:luther:d:luther-dass_jesus_jude).

3 Die in den deutschen Ländern rebellierenden Bauern fassten die von Luther propagierte reformatorisch-evangelische Befreiung der Seele vom Katholizismus und Feudalismus in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) ganz real auf. Sie wollten nicht nur Befreiung von christlichen Dogmen und von feudalen Monopolen, sondern forderten Befreiung der breiten Massen in Land und Stadt von ökonomisch-feudaler Ausbeutung, von sozialer Missachtung und von politischer Unterdrückung. Von solcher Art Befreiung jedoch hatte Luther nicht gesprochen. Luther forderte daher auch von den „reformierten“ Fürsten, die rebellierenden Bauern mit militärischer Gewalt nieder zu schlagen.

4 Es sei hier nur die Forderung Luthers an die Massen nach devoter, gottgewollter Unterwürfigkeit unter die Herrschenden genannt. Dem deutschen Bürgertum war jede Rebellion der Massen, jedes selbstbewusste Agieren der Massen zu wider. Kadavergehorsam, blinde Disziplin, Gefolgschaft bis zum Tod – in der Religion gegenüber Gott und im Alltag gegenüber Aristokraten, Offizier, Führer, usw. – ist ein Kern des lutherischen Protestantismus, der sich daher so gefügig jeder Obrigkeit anpasst. Direkt gegen die „12 Artikel“ der Bauernschaft schrieb Luther:

Das heißt christliche Freiheit ganz fleischlich machen. Haben nicht Abraham und andere Patriarchen und Propheten auch Leibeigene gehabt? … Es will dieser Artikel alle Menschen gleich machen und aus dem geistlichen Reich Christus ein weltlich, äußerlich Reich machen; welches unmöglich ist. Denn weltlich Reich kann nicht stehen, wo nicht Ungleichheit ist in Personen, dass etliche frei sein, etliche gefangen, etliche Herren, etliche Untertan.“ (Martin Luther, Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauern in Schwaben, 1525, z. n. Dr. Martin Luthers reformations-historische deutsche Schriften, 1. Band, 1830, S. 281).

5 „In Deutschland ist das Spießbürgertum Frucht einer gescheiterten Revolution, einer unterbrochenen, zurückgedrängten Entwicklung, und hat seinen eigentümlichen, abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit, Borniertheit, Hülflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative erhalten durch den 30jährigen Krieg und die ihm folgende Zeit (…)“ (Brief von Engels an Paul Ernst 5. Juni 1890, MEW Band 37, S. 412).

6 „Denn die Juden als Fremdlinge sollten eigentlich gewisslich nicht haben. … Noch haben sie unser Geld und Gut, und sind damit unsre Herren in unserem eigenen Land.“ „…weil sie der Welt Herren, und wir ihre Knechte, ja, ihr Vieh sind“. (Luther, Von den Juden und ihren Lügen, 1543, z.n.: Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft Band 1, S. 88, 90). Luther ist seither ein „Zeuge“ und „Stichwortgeber“ der deutschen Judenfeinde.

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