Dezember 2021 – FIPS-NEWS Nr. 40: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 4)
Editorial
Das Essay “ Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“ wird mit dem 4. Kapitel fortgeführt. Die nächsten Kapitel erscheinen jeweils in den folgenden FIPS-NEWS.
Wir bitten nochmals um Entschuldigung, dass die Veröffentlichung erst jetzt erfolgt.
10. August 2022 Dr. Peter Milde
4. Klassenkämpfe und Judenfeindschaft während der Bauernkriege
Eine weitere Variante der Ablehnung einer objektiv-materialistischen Analyse der Judenfeindschaft, ist die These, dass der Kampf gegen die Judenfeinde „in der Zeit vor der Aufklärung“ in den deutschen Ländern „in erster Linie ein theologischer und auch rechtlicher Kampf“1 gewesen sei. Es ist keine große Erkenntnis, dass Theologie und Recht seit Entstehung der Klassen und des Klassenkampfes sowohl Gegenstände als auch Resultate des Kampfes der Klassen sind. Doch nicht darum geht es, denn hier wird fälschlich die Gestalt der Kämpfe (ihr theologischer und juristischer Schein) mit den Motiven und Ambitionen der Kämpfe zwischen Judenfeinden und ihren Gegnern verwechselt.2
So fanden die Bauernkriege Anfang des 16. Jh. in Deutschland in der Hülle (Form) eines „theologischen Kampfes“ statt, waren ihrem Wesen nach jedoch soziale, politische und ideologische Klassenkämpfe. Sie waren ihrem Charakter und ihrem Inhalt nach bürgerlich-bäuerlich-plebejische Klassenkämpfe gegen den Feudalismus, gegen die aristokratisch herrschenden Klassen und gegen die katholische Kirche auf dem damaligen Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte und dem damaligen Stand der Entwicklung des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Privateigentums und dem dieser Entwicklung entsprechendem Bewusstsein der kämpfenden Klassen. Die Akteure kämpften mit den Ideologien ihrer Zeit, aber sie kämpften in erster Linie – bei allen theologischen und juristischen Hüllen ihrer Kämpfe – für eine Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse in ihrem Klasseninteresse.3
Im Verlaufe dieser antifeudalen Kämpfe spalteten sich die gegen die feudal-aristokratische Macht kämpfenden Klassen einerseits in das von Luther geführte kompromissbereite deutsche Bürgertum und andererseits in die revolutionär-demokratischen bäuerlichen und plebejischen Massen.
Der Kampf der Judenfeinde gegen die jüdische Bevölkerung während der Bauernkriege war Teil dieses politischen und militärischen Kampfes der Klassen, er hatte eine konterrevolutionäre Funktion der Verhetzung, Ablenkung, Brutalisierung und Demoralisierung der Massen.
Für die deutschen Verhältnisse und die deutsche Ideologie der nächsten Jahrhunderte entscheidend war, dass sich gegen die aufständischen Bauern das deutsche Bürgertum und die deutschen Aristokraten nicht nur auf Kosten der Armen (Bauern und Plebejer), sondern auch auf Kosten der jüdischen Bevölkerung zu einer gemeinsamen Reaktion, ja zu einer Konterrevolution (mit unterschiedlichen Strömungen) vereinten. Seitdem konnte in Deutschland von einem konsequent antifeudalen Kampf des deutschen Bürgertums als Klasse und von einem konsequenten Kampf des deutschen Bürgertums für die politische Emanzipation der Juden nicht mehr die Rede sein.4
Allerdings zeigen die Bauernkriege auch, dass die Verhetzung der armen ausgebeuteten Massen im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten nicht mehr die von den herrschenden Klassen gewünschten Erfolge zeitigte, sondern im Gegenteil breite Massen die Judenfeindschaft und judenfeindlichen Attacken ablehnten.
Häufig wird auch heute in Deutschland „die positive Rolle von Thomas Münzer“ als „führender Kämpfer des Bauernkriegs“ 1525 übertrieben.5 Im Gegenzug wird die Rolle und Bedeutung der breiten rebellischen Bauern und Bäuerinnen und Plebejer:innen klein geredet. Zwar lehnte Thomas Münzer die Gewaltanwendung gegen die jüdische Bevölkerung – wie Johannes Reuchlin – ab, doch Thomas Münzer verhielt sich, wie die meisten „christlich-aufgeklärten“ deutschen Theologen in Bezug auf das Judentum ebenfalls zwiespältig und hielt an der Absicht fest, aus den Juden „gute“ Christen zu machen.
Im Unterschied zu Thomas Münzer waren es die allergrößten und entscheidenden aufständischen Bauern“haufen“, die nicht nur jede Gewaltanwendung gegen die jüdische Bevölkerung ablehnten, sondern auch jegliche antijüdische Agitation und Forderung in ihren Reihen und in ihren Flugschriften verboten.6
Eine unbestreitbare Tatsache ist: Die allergrößte Mehrheit der rebellischen Bauern und Bäuerinnen – auch wenn in einigen Gegenden im Elsass bäuerliche Bevölkerung die jüdische Bevölkerung vertrieb – schützte in ihren Schriften und in ihren Aktionen die jüdische Bevölkerung und widerstand der judenfeindlichen Hetze der herrschenden Klassen. Gerade die Bauernkriege von 1525 sind ein Beispiel dafür, dass es den christlichen Kirchen, den Feudalherren und den Patriziern der Städte nicht gelang, die Wut der armen Bevölkerung auf dem Land und der Stadt von den herrschenden und ausbeutenden Klassen auf die jüdische Bevölkerung umzulenken.
(Fortsetzung folgt).
30.07.2022 Dr. Peter Milde
Endnoten:
1 Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft (Band 1), S., 23f.
2 Hingegen sind die „theologischen und rechtlichen Kämpfe“ die Widerspiegelung der Klassenkämpfe, die sich auf der Basis des Stands der Entwicklung der Produktivkräfte, der Arbeitsteilung und der Produktionsweise bilden und auf die Kämpfe der Klassen und die ökonomische Basis der Gesellschaft wieder zurückwirken.
3 Dies trifft auch auf den jüdisch-elsässischen Händler Josel von Rosheim zu. Josel von Rosheim war ein allseits anerkannter Verteidiger der Interessen und des Lebens der jüdischen Bevölkerung und kämpfte gegen die katholischen und protestantischen Judenfeinde. Doch während der Bauernkriege im Elsass war Josel von Rosheim auch daran beteiligt, aufständische Bauern von der Einnahme elsässischer Städte abzuhalten.
4 Die Abschaffung der feudalen Produktionsweise und auch die politische Emanzipation der Juden war in Deutschland das Werk einer Umgestaltung, die vom dynastisch-abolutistischen Staat ausging.
5 Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft (Band 1, S. 112, 115). Thomas Münzer war sicherlich ein herausragender theologischer Ideologe, Agitator und Organisator im Bauernkrieg. Er verkörperte die revolutionäre Alternative im Gegensatz zu dem verräterischen Luther. Doch auch Thomas Münzer war eine Gestalt seiner Zeit, verhaftet in der Theologie und doch zugleich ein Revolutionär und als letzterer einer unter vielen revolutionären Gestalten, die aus den kämpfenden Massen der Bauern und Bäuerinnen und Plebejer:innen hervorgingen und die als Praktiker der antifeudalen Revolution Großes vollbrachten.
6 Die berühmten „Zwölf Artikel“ der aufständischen Bauern vom März 1525 verbreiteten sich in gedruckten Exemplaren als ein allgemeines Manifest der Bauernschaften in ganz Deutschland. Die „Zwölf Artikel“ beinhalteten keinerlei antijüdische Position. (Sie sind abgedruckt in: Wilhelm Zimmermann, Der große deutsche Bauernkrieg, zit. n. dem Nachdruck – nach der 7. Auflage von 1891 mit Ergänzungen aus der 2. Auflage von 1856 -, Dietz Verlag Berlin 1982, S. 324 – 329). Auch der Eid der Elsässer Bauern, der ebenfalls aus kurzen 12. Artikeln bestand, beinhaltete noch radikalere antifeudale Forderungen. Antijüdische Positionen beinhaltete auch dieser nicht. Die Analyse von Wilhelm Zimmermann kommt daher zu dem Schluss:
„So verlautete im Elsass unter einzelnen Bauernrotten, sie wollen auch an die Juden; und doch findet sich nirgends eine Spur, dass auch nur ein Jude oder Judenhaus im Elsass geplündert wurde, ein paar Fass Wein ausgenommen. Es waren das nur Wünsche und Stimmen einzelner gewesen, welche vor dem, was die Mehrheit wollte, sogleich zurücktreten mussten. Im Gegenteil es ist bemerkenswert, die Juden haben im Bauernkrieg keinerlei Misshandlung erfahren. … In keinem Berichte, durch ganz Deutschland hin, findet sich eine Spur, dass im Bauernkriege die Volksfeindschaft gegen diejenigen sich gerichtet habe, gegen welche durchs ganze Mittelalter hindurch sie so oft in unmenschlicher Weise aufgestachelt worden und ausgebrochen war, nämlich gegen die Juden“. (Wilhelm Zimmermann, Der große deutsche Bauernkrieg, zit. n. dem Nachdruck – nach der 7. Auflage von 1891 mit Ergänzungen aus der 2. Auflage von 1856 -, Dietz Verlag Berlin 1982, S. 623).