Januar 2022 – FIPS-NEWS Nr. 41: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 5)
Editorial
Das Essay “ Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“ wird mit dem 5. Kapitel fortgeführt. Die nächsten Kapitel erscheinen jeweils in den folgenden FIPS-NEWS.
Wir bitten nochmals um Entschuldigung, dass die Veröffentlichung erst jetzt erfolgt.
10. August 2022 Dr. Peter Milde
5. Reiche Juden, arme Juden und die Geldwirtschaft
Es ist eine Selbstverständlichkeit „die Lüge von ‚den‘ Juden als reiche Wucherer“1 im Mittelalter zurückzuweisen.2 Doch mit Logik, Statistik und Argumenten ist dieser judenfeindlichen Demagogie nicht beizukommen,3 denn es geht diesen Demagogen im Kern darum, den Juden einen angeblich „betrügerischen und wucherischen Charakter“ zu unterstellen, egal ob es sich um reiche oder arme Juden handelt.
Um die judenfeindliche Hetze von „den Juden als Wucherern“ zu widerlegen, bedarf es eines Verständnisses davon, dass die Beschränkung der wirtschaftlichen Tätigkeit der jüdischen Bevölkerung sowie das „Privileg“ des Geldverleihens eine (sich verändernde) Funktion und Bedeutung in den Klassenkämpfen seit dem Mittelalter hatte.4
So bekämpften die feudalen Klassen und die feudalen Staatsgewalten in Deutschland das sich herausbildende bürgerliche Kapitalverhältnis als „jüdisch“ und als „jüdischen Wucher“ und von ihrem reaktionären Standpunkt aus „die Juden als Wucherer“, d.h. sie verwendeten den Begriff „Jude“, bzw. „Juden“ als Synonym für Geldwirtschaft und Kapitalismus, um die jüdische Bevölkerung zu diskriminieren, gegen sie zu hetzen und die Bevölkerung gegen sie aufzustacheln.5
5.1. Judenfeindschaft und die Entwicklung des Geldkapitals
Mit der Zunahme des Geldbedarfs im Handel, der Produktion und des Konsums der herrschenden Klassen ab dem 12. Jh. beteiligten sich Juden etwa im Rheinland in größerem Umfang an Geldgeschäften. Geldverleih erfolgte zuerst gegen Pfandleihe und später gegen Schuldbriefe vor allem an Fürsten, Adel, Klöster, Bischöfe, usw. Da die feudale Ausbeutung diesen Klassen nicht genügend Geldeinnahmen einbrachte, um ihren Konsum bezahlen zu können, waren diese Klassen auf finanziellen Kredit angewiesen. Mit zunehmender Warenwirtschaft betraf dies später auch die Bauern, Handwerker und kleinen Händler. Da die Finanzgeschäfte im Mittelalter von geringerer Bedeutung und durch die katholisch-christliche Kirche den Stempel der „Unmoral“ trugen, wurden diese Finanzgeschäfte Juden erlaubt.6
Die ökonomische Tätigkeit von Juden im Finanz- und Kreditwesen im Mittelalter hatte mehrfache Gründe: das kanonische Zinsverbot der katholischen Kirche für Christen, den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung von den christlichen Gilden und Zünften in den Städten, und das Verbot für Juden zur Bewirtschaftung von Grundbesitz durch abhängige Bauern.7
Allerdings waren auch schon damals keineswegs nur Juden, sondern auch reiche bürgerliche Patrizierfamilien im Finanz- und Kreditwesen tätig, z. T. auf Grund der Geldeinnahmen aus dem Fernhandel als auch auf Grund der Geldeinnahmen durch den Gold- und Silberbergbau (Mitte des 12. Jahrhunderts gründete sich die erste Hanse und weitete sich in den folgenden Jahrzehnten in den Handelsstädten der Nord- und Ostsee aus).
Das 13. und 14. Jahrhundert mit seinem wirtschaftlichen Aufschwung ließ die Warenwirtschaft und damit die Geldwirtschaft, d.h. den Austausch mittels des Marktes, gegenüber der Naturalwirtschaft immens anwachsen. Die Welser und Fugger, die ihre Hauptsitze in Nürnberg und Augsburg hatten, sind die heute noch bekanntesten dieser großen Handelsgesellschaften in den deutschen Ländern, die damals in den großen europäischen Handelsstädten eigene Niederlassungen hatten und in ganz Europa lukrativen Fernhandel, teilweise auch Seehandel mit eigener Flotte betrieben. Mit einem beträchtlichen Teil ihrer Gewinne betrieben sie Geldverleih auch an den europäischen Höfen und verschafften sich damit nicht nur weitere Gewinne sondern auch gesellschaftlichen und politischen Einfluss.
Gleichzeitig geriet der breite Landadel durch den Fall des Bodenzinses in finanzielle Bedrängnis. Der Bedarf an Geldkapital der herrschenden Klassen für Produktion, Handel und den eigenen Konsum, aber auch der Geldbedarf der ärmeren Bevölkerung nahm erheblich zu. Neben italienischen, deutschen waren es damals auch einige jüdische Kreditgeber, die hiervon profitierten. Zudem waren durch ihre Kenntnisse im Allgemeinwissen (Schreiben, Rechnen), im Kreditwesen und im Handel Juden für die Fürsten in der Finanzverwaltung und im staatlichen Einkauf (auch für das Militär) interessant. Einige wenige jüdische Familien erhielten daher Privilegien zur Niederlassung und Anstellung bei den Fürstenhäusern
So entstand bereits im 13. Jahrhundert die christlich-antijüdische Verleumdung von Juden als „Wucherer“, die sich von den Christen bereichern würden.8 In Wirklichkeit war die Entwicklung des Geldkapitals und seine Bedeutung in der ökonomischen Entwicklung in Europa keine Frage der Nationalität (oder Religion), sondern war einzig ein Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsteilung und damit eine Frage des Besitzes und der Zugehörigkeit zur Klasse der Geldbesitzer.
5.2. Judenfeindschaft als Inhalt und Mittel des Klassenkampfes der feudalen und bürgerlichen Klassen im Mittelalter
Die Diskriminierung, Diffamierung und Verfolgung der Juden aus christlich-religiösen Motiven wurde von den herrschenden Feudalen, der christlichen Kirche und den städtischen Patrizierfamilien (letztere verfügten aus dem Fernhandel über immenses Geldkapital) mit sozialer Demagogie und Hetze verknüpft. Judenfeindschaft wurde zum Inhalt des Kampfes der ausbeutenden und herrschenden Klassen des Mittelalters: Einerseits bekämpften die feudalen Klassen der Aristokratie und der Kirche das kapitalistische Bürgertum, von deren Geldkapital sie zunehmend abhängig wurden, als „jüdisch“ und andererseits bekämpften die deutschen christlichen bürgerlichen Patrizier ihre jüdischen Konkurrenten im Fernhandel. Beide hatten ein Feindbild: Sie lenkten den Hass der Bevölkerung gegen die feudalen und bürgerlichen Ausbeuter um auf die jüdische Bevölkerung. Selbständig im Fernhandel traditionell tätige jüdische Familien wurden von deutschen christlichen Bankiers und Großkaufleuten systematisch verdrängt.
Die über drei Jahrhunderte betriebene antijüdische soziale Demagogie der herrschenden feudalen Klassen gegen „jüdische Wucherer“ hatte dahingehend Erfolg, dass Juden in der christlichen Bevölkerung nun nicht nur als „Jesusmörder“ und als „im Bunde mit dem Satan sehend“ , sondern auch als „wucherische Ausbeuter“ galten. Die Juden wurden also nicht mehr nur aus religiösen, sondern nun auch aus sozialen Motiven diskriminiert, verfolgt und ermordet.
Mit der Ausbreitung der Pest in Europa sollte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung Mitte des 14. Jahrhunderts schlagartig weiter verschlechtern. Gegen die Juden wurde nun auch als angebliche Urheber des „schwarzen Todes“ gehetzt.
Doch darüber hinaus waren es vor allem die Klasseninteressen der in den Zünften der Städte organisierten Handwerker, die zu Plünderungen und Pogromen an den Juden aufriefen, um in den größeren Städten den alt eingesessenen Patrizierfamilien die Macht streitig zu machen und sich das Eigentum, die Pfänder und Schuldbriefe von reichen Juden „zurück zu holen“.
Wurden die Juden in den Städten nicht ermordet, so wurden sie systematisch aus den Städten vertrieben. Das kaiserliche Schuldentilgungsgesetz von 1390 befreite sämtliche Fürsten, Bischöfe und feudale und adlige Herren und ihre Untertanen von den Schulden, die sie bei Juden hatten.9
Im ausgehenden 14. bis 16. Jahrhundert nahmen der Handel und das Gewerbe in Deutschland einen weiteren enormen Aufschwung (z.B. durch den Bergbau in den Alpenländern und in Mitteldeutschland, die Augsburger Handelsgesellschaften der Fugger und Welser, die Zunahme des Finanzhandels und Kreditwesen). Nürnberg, Augsburg, daneben Köln und Frankfurt wurden zu großen Handelsmetropolen und Messestädten. Die entscheidenden Personen im Handel und im Kreditwesen waren christliche Kaufleute und Kreditgeber. 1486 wurde in Augsburg die erste deutsche Bank – die sog. „Fugger-Bank“ – begründet. Juden waren als Kreditgeber ökonomisch für die herrschenden und ausbeutenden Klassen christlichen Glaubens längst entbehrlich geworden.
Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die in den Städten noch verbliebenen jüdischen Kaufleute und Kreditgeber und mit ihnen die gesamte jüdische Bevölkerung durch systematische Verfolgungen aus den Städten vertrieben. Am Ende der Klassenkämpfe in dieser Zeitspanne fallen auch die Vertreibungen der Juden aus Frankfurt am Main 1614 durch den sog. „Fettmilchaufstand“.
Viele Juden wanderten in dieser Zeitspanne nach Osteuropa aus. Einige wenige konnten für Schutzgeld einen „Geleitbrief“ erwerben, der eine zeitliche Niederlassung erlaubte. Im 16. und 17. Jh. waren nur noch wenige jüdische Familien im sog. Geldhandel, meistens in Abhängigkeit, bzw. im Auftrag von Fürsten, tätig.
Den auf dem Land lebenden jüdischen Familien, die den Vertreibungen entkamen, blieb neben dem Handel mit Trödel nur der Getreide- und Viehhandel, die häufig Restriktionen unterworfen waren.
Nur noch wenige Juden trieben Finanzgeschäfte mit, bzw. an den fürstlichen und adligen Höfen. Sie wurden spöttisch als „Hofjuden“ beschimpft. Die Fürsten und die adligen Herrscher profitierten gleich dreifach von ihnen. Einmal nutzten sie die Handelsverbindungen der jüdischen Kaufleute etwa bei der Beschaffung von Geld, Proviant und Kriegsmaterial aus. Und ein anderes Mal mussten die jüdischen Händler, Finanziers und Münzpräger für die finanziellen Schurkereien der Fürsten mit ihrem Eigentum und Leben bezahlen. Und drittens wurden alle Juden der deutschen Bevölkerung als Sündenböcke vorgeführt, an denen sie ihre Wut austoben durften.
Den Übergang in das kapitalistische Zeitalter schafften nur wenige reiche jüdische Familien, die zwar einen gewissen Einfluss in der kapitalistischen Ökonomie hatten, aber nicht als „Juden“ (d.h. nicht auf der Grundlage ihrer „Sonderstellung“ im Mittelalter), sondern als „Kapitalisten“. Auf dem Markt oder gegenüber den deutschen Staaten – wie etwa Preußen – waren sie kapitalistische Akteure wie alle anderen auch.
5.3. Die Entstehung eines jüdischen Bürgertums und die Demagogie vom „wucherischen, geldgierigen“ Charakter der Juden
Im deutschen Wissenschaftsbetrieb wird die Kritik an den Judenfeinden häufig simplifiziert. Ein Beispiel hierfür:
„Das Klischee von ‚den‘ Juden als mehr oder minder einheitliche Schicht und die ihr zugeschriebene Rolle als ‚Wucherer‘ stimmt in keiner Weise.“10
Dies ist nun wirklich keine große Erkenntnis. Statistiken, die dies belegen liegen seit den 1840er Jahren vor. Von den 206.050 in Preußen lebenden jüdischen Personen waren nach der Volkszählung von 184311 erwerbstätig 62.185 jüdischen Personen. Diese gruppierten sich in etwa in die folgenden sozialen Schichten:
Angaben nach der Preußischen Volkszählung von 1843:
1,8% 1140 Großhändler und Bankiers (Großbürgertum)
38,2% Mittelstand , davon
20% Händler 9,7% 6003 Kaufleute mit offenen Läden
2,1% 1358 Lieferanten, Kommissionäre
8,1% sonstige Händler
20% bürgerl. 4,7% Gast- und Schankwirte
Berufe 2,2% sonstige selbstständige Gewerbe
1,0% Landwirte und Obstbauern
2,7% Wissenschaftler, Künstler, Pädagogen
2,7% Rentiers und Pensionsempfänger
4,9% Sonstige
60,0% Arme Schichten, davon:
14,1% 8739 Kleinhändler
7,3% 4499 Trödelhändler und Hausierer
19,3% Handwerker
14,3% Tagelöhner, Knechte und Mägde
1,3% Gemeindebedienstete
3,8% Almosenempfänger
Die Realität zeigt, dass sich die soziale Lage der jüdischen Bevölkerung gegenüber dem Mittelalter entscheidend geändert hatte.
An der Spitze der sozialen Skala befanden sich 1.140 (1,8%) erwerbstätige jüdischen Personen, die dem kapitalistischen Bürgertum angehörten und vorwiegend in Berlin ansässig waren.
Am unteren Ende der sozialen Skala lebten 37.300 (60%) der erwerbstätigen jüdischen Personen in großer Armut.
Dazwischen existierte ein relativ breiter Mittelstand aus mittelständigen Händlern und bürgerlichen Berufen von 42.500 (38%) erwerbstätigen jüdischen Personen.
Im Unterschied zu Preußen lag in Bayern der Anteil der Trödelhändler und Hausierer bei ca. 30%, der der Handwerker war mit 24,2% sogar etwas höher als in Preußen. Die 8,1% in der Landwirtschaft Tätigen waren sicher zum aller größten Teil sog. „Gesinde“, also Knechte und Mägde.
Trotz dieser sozialen Differenzierung der jüdischen Bevölkerung in Folge der ökonomischen und politischen Entwicklung Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jh. hält sich offenbar die irrtümliche Meinung, dass auch in der ganzen 1. Hälfte des 19. Jh. sich gegenüber dem Mittelalter kaum etwas verändert hätte.12
Dies ist entweder ein Vorurteil oder eine absurde Behauptung:
Unter dem Einfluss der französischen Revolution entwickelte sich im Rheinland und im Königreich Westphalen in Folge der Judenemanzipation ein jüdisches Bürgertum. 1812 setzte das preußische Bürgertum wenigstens in einem Teil Preußens mit dem „Edikt über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“ das Staats- und Gemeindebürgerrecht, Wahlrecht, Gewerbefreiheit und Niederlassungsfreiheit für die jüdische Bevölkerung durch, das ihnen auch akademische Berufe öffnete. Allerdings wurde 1830 entschieden, dass in den ab 1812 neu gewonnen oder wiedererworbenen Teilen Preußens (das war der größte Teil Preußens) das Edikt keine Gültigkeit hatte. In den deutschen Südstaaten13 erlangte die jüdische Bevölkerung ihre vollständige politische Emanzipation in den 1860er Jahren und in Preußen 1869 und im gesamten „Deutschen Reich“ 1871.
Weiter – was die Mehrheit des jüdischen Bürgertums betrifft – war dieses allerdings auch noch in der 1. Hälfte des 19. Jh. z.T. von den aristokratischen Herrschern in den deutschen Ländern abhängig oder bestand gar aus in ihrem Solde stehenden Finanziers, Münzunternehmern oder Kaufleuten (sog. Hoffaktoren), die für die Ausrüstung der Armee und den höfischen Konsum tätig waren. Diese, verächtlich als „Hofjuden“ bezeichneten jüdischen Familien erhielten hierfür Generalprivilegien und Naturalisationspatente. In dieser Funktion erlangten diese jüdischen Familien auch persönliches Vermögen, das sie in eigene industrielle Unternehmungen (etwa in der Silber-, Seiden- und Samtindustrie) oder in Banken investierten. Insbesondere am Hofe des preußischen Königs entstand so allmählich eine privilegierte Schicht jüdischer Bourgeoisie.
Bereits Mitte des 18. Jh. vergab der preußische König Friedrich II. – um den Geldbedarf für den Krieg gegen Österreich Mitte des 18. Jahrhunderts zu decken – erstmals Patente an „Schutzjuden“ zum Münzprägen. Diese erhielten ein vererbbares Generalprivileg, das ihnen die gleichen Rechte der Freizügigkeit und der Gründung weiterer Niederlassungen einräumte, wie sie die preußischen Aristokraten hatten. Von diesen privilegierten „Schutzjuden“ war vor allem die Familie von Daniel Itzig im Dienste der preußischen Krone und erhielt 1791 sogar die volle Einbürgerung in männlicher und weiblicher Linie einschließlich der Angeheirateten (besonderes Naturalisationspatent), was zum ökonomischen Aufstieg etwa der Familien von David Friedländer und Mendel Oppenheim führte. Sie waren als Münzunternehmer, Armee- und Hoflieferanten, Juweliere und Kreditgeber für den preußischen Hof tätig. Einzelne Mitglieder dieser privilegierten jüdischen Elite erlangten auch hohe preußische Staatsämter (Benjamin Veitel Ephraim wurde Geheimrat, Isaak Daniel Itzig wurde Hofbaurat, Bankier Liepmann Meier Wolf wurde Pächter der staatlichen Klassenlotterie). Auf Grund der ökonomischen Bedeutung der „Hofjuden“ in Berlin stellten sie 1803 zwei von vier Leitern der Berliner Börse. Zu einer Kontrolle der preußischen Politik durch „jüdische“ Bourgeois – wie es die judenfeindliche Agitation behauptete – war es jedoch nie gekommen.14
Um es klar und deutlich zu sagen:
Nicht weil diese Familien vorher reiche Juden oder wie die reaktionären Judenfeinde unterstellten „Wucherer“ waren, wurden sie als sog. „Hofjuden“ mit finanziellen Geschäften für die fürstlichen und königlichen Höfe betraut. Im Gegenteil waren es zuvor oft nicht sonderlich reiche jüdische Familien, denen sich die Fürsten und der preußische König bedienten. Als sog. „Hofjuden“ standen sie in besonderer Abhängigkeit zu ihren aristokratischen Herren und konnten schnell in Ungnade fallen, wieder alles erworbenen Ansehens und Reichtums verlustig gehen oder wurden als „Bauernopfer“ für die finanziellen Machenschaften ihrer aristokratischen Herren wieder fallen gelassen, ihres Reichtums enteignet oder gar der Justiz übergeben.15
In der Folge nutzten die Judenfeinde den ökonomischen und gesellschaftlichen Aufstieg einiger weniger jüdischer Familien, um gegen „Juden“ als „gierige Geldmenschen“ zu hetzen.
Diese Entwicklung einiger weniger jüdischer Familien zu Bourgeois zeigt jedoch, dass nicht etwa der „jüdische Charakter“,16 sondern die ökonomischen Verhältnisse, die bürgerlich-ökonomischen Betätigungen, die ihnen von den Herrschenden gestattet wurden, einigen wenigen jüdischen Familien den Aufstieg in die Bourgeoisie ermöglichte. Es geht also im Kampf gegen die judenfeindliche Ideologie nicht darum, die Existenz „jüdischer“ Bourgeois zu leugnen. Es ist aber auch umgekehrt theoretisch völlig überflüssig und ideologisch und politisch ist es angesichts der Judenfeindschaft zudem schädlich die Nationalität oder Religionszugehörigkeit zu benennen.17
Erstens ist es völlig egal welcher Religion oder Nationalität ein Bourgeois angehört. Das Kapital der Bourgeoisie kennt keine Nationalität, keine Religion, es kennt nur die Tendenz zur Vermehrung seines Profits durch die kapitalistische Produktionsweise.
Zweitens sind weder die „deutschen“ Bourgeois noch die „jüdischen“ Bourgeois von ihrem „nationalen“ oder „religiösen“ Charakter her besonders „geldgierig“, „wucherisch“, „betrügerisch“ oder sonst irgendetwas, da sie trotz der nationalen oder religiösen Unterschiede hinsichtlich ihres kapitalistischen Erwerbs alle gleich sind.
Drittens ob Deutsche oder Juden zu Bourgeois aufstiegen, lag nicht an ihrem „nationalen“ Charakter oder an ihrem „religiösen Glauben“, sondern an der konkreten historischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der Rolle, die diese Personen hierbei einnehmen konnten.
5.4. Die judenfeindliche Demagogie widerspiegelt die ökonomischen Interessen und den Klassenkampf im ideologischen Bereich
Den christlichen judenfeindlichen Demagogen war unzweifelhaft selbst bewusst, dass der größte Teil der Juden in Armut lebte – dies ist keine neue Erkenntnis. Auch der christlichen Bevölkerung blieb damals nicht verborgen, dass etwa der mit Trödel handelnde „Jude“ nicht zu Reichtum gelangen konnte und dass daher die breite Mehrheit der Juden arm war.
Trotzdem war über die Jahrhunderte das soziale Narrativ von „Juden als Wucherern“ tief in das Bewusstsein und das Unterbewusstsein der christlichen deutschen Bevölkerung verankert worden – nicht zuletzt – weil sich diese soziale Demagogie mit dem christlichen Narrativ von dem „mit dem Teufel im Bunde stehenden Juden“, der dem Christen Unheil brächte, verbinden ließ.
Die soziale Demagogie gegen die jüdische Bevölkerung war in mehrfacher Hinsicht die Widerspiegelung der ökonomischen Interessen und des politischen Klassenkampfes im ideologischen Bereich:
Zum einen bekämpfte die feudale Grundbesitzerklasse das Geldkapital und die neue kapitalistische Fabrikproduktion als ihren ökonomischen Konkurrenten, da sie durch die neue Produktionsweise zunehmend an ökonomischer Bedeutung verlor oder gar verarmte. Die judenfeindliche Demagogie in ihren verschiedenen „alten“ und „neuen“ Varianten bot sich ihnen geradezu als ideologische Hülle ihres Kampfes gegen das Bürgertum, den Kapitalismus und dessen Ideologie des Liberalismus an. Diese Judenfeindschaft ist Ausdruck des Kampfes der überlebten reaktionären Klassen – der feudalen Grundherren, der Zunftmeister und Handels-Gilden, wie etwa der Hanse – gegen das aufsteigende Bürgertum und die kapitalistische Produktions- und Verkehrsweise.
Zum anderen bekämpfte die aus den Patrizierfamilien, den Zünften und Gilden hervorgegangene deutsche Bourgeoisie die Juden, die durch Jahrhunderte lange Hetze als Synonym für Geldwirtschaft galten, um von sich selbst als Ausbeuter und Unterdrücker abzulenken. Die nationale Ideologie der deutschen Bourgeoisie, die der Orientierung auf den nationalen Markt entsprach, ließ sich sehr gut mit der Judenfeindschaft verbinden. Die jüdische Bevölkerung wurde als „fremd“ und „antideutsch“ und der jüdische (Klein-)Handel und jüdische (Klein-)Kreditgeber als Ausbeuter der deutschen, oft bäuerlichen Bevölkerung diffamiert.
In ihrer Judenfeindschaft – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Argumenten und Ausprägungen – waren sich die große Mehrheit des deutschen Bürgertum und die deutschen feudalen Klassen einig. In der Ablehnung der Emanzipation der Juden in Deutschland durch große Teile des deutschen Bürgertums und Kleinbürgertums zeichnete sich bereits ihr späterer verräterischer Kompromiss mit der feudal-absolutistischen Reaktion in der demokratischen Revolution ab.
Dieser Verrat am bürgerlichen Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen durch das deutsche Bürgertum ist einer der Gründe, warum sich die „alte“ christliche Judenfeindschaft aus dem Mittelalter mit den neuen bürgerlichen „aufgeklärten“ Varianten der Judenfeindschaft so gut verbinden und die Judenfeindschaft in Deutschland bis heute in so abscheulich brutaler Art weiterleben konnte.
(Fortsetzung folgt).
31.07.2022 Dr. Peter Milde
Endnoten:
1 Zur Analyse des Kampfes gegen Judenfeindschaft, Band1, Verlag Olga Benario und Herbert Baum Offenbach 2014, S. 43 und Band 2, Offenbach 2018, S. 8.
2 Diese Lüge entstand im Mittelalter und wurde von den judenfeindlichen Demagogen des Kapitalismus weiter verbreitet und von den Nazis unter der Parole des „nationalen Sozialismus“ gegen das „jüdisch-amerikanische Finanzkapital“ übernommen. Angeblich beute das „jüdische“ Kapital das deutsche Volk aus, hingegen sei das „deutsche“ Kapital die ökonomische Grundlage eines „nationalen Sozialismus“ in Deutschland, das zum Wohle der „deutschen Volksgemeinschaft“ wirtschafte.
3 Es handelte sich bereits im Mittelalter um einen „Verschwörungsmythos“, dem – bar jeder wissenschaftlichen Grundlage – weder mit Fakten noch mit Argumenten beizukommen ist. Davon zu unterscheiden ist, dass die Gründe, warum Menschen auf solche Verschwörungsmythen hereinfallen, sehr wohl wieder wissenschaftlich und auf Grund realistischer und objektiver Betrachtung zu benennen sind. Beides darf jedoch nicht verwechselt werden, denn es geht bei letzterem ja nicht um eine Entschuldigung dieser Verschwörungsmythen.
4 Die Studie von Ismar Elbogen und Eleonore Sterlin, Die Geschichte der Juden in Deutschland, 1935/1966 (Ausgabe Frankfurt am Main 1988) und die Studien in dem Sammelband „Monumenta Judaica“, (zweite verbesserte Auflage, Köln 1964) enthalten neben vielen anderen Studien umfangreiche und konkrete Fakten.
5 Die Demagogie der Judenfeinde bestand also nicht darin, dass sie vor Juden den Artikel „die“ oder „den“ setzten. So simpel argumentierten die Judenfeinde nicht und so sind sie auch nicht „formal logisch“ zu widerlegen. Dies zeigt auch der weit verbreitete Gebrauch des Plurals auch bei Gegnern der Judenfeindschaft. Im allgemeinen Sprachgebrauch stehen „die Juden“ oder „den Juden“ keineswegs automatisch für „alle“ Juden. Diese Gleichsetzung ist auch formal logisch keinesfalls richtig oder gar zwingend. Dies zeigt, dass eine scheinbar „logische“ oder „semantische“ Argumentation die Judenfeinde nicht widerlegt. Angebliche „Gretchenfragen“(wie: „Waren alle Juden Wucherer?“, „Waren alle Wucherer Juden?“ und „Waren die Juden, die Geldverleiher waren, wirklich dominierend?“) verharmlosen die Demagogie der Judenfeinde und können den Kern der judenfeindlichen Demagogie nicht widerlegen.
Nicht jede:r, der von „den Juden“ oder „die Juden“ spricht, meint zwangsläufig „alle“ Juden, beabsichtigt also nicht bereits deswegen deren judenfeindliche Diffamierung. Wie auch beim Verständnis anderer Probleme kommt es weniger auf die Wortsemantik, als vielmehr auf den gedanklichen Zusammenhang und den damit ausgedrückten und transportierte Inhalt an. Als Beispiel sei hierzu auf die Studie von Ismar Elbogen und Eleonore Sterlin hingewiesen: „…spielten die Juden … eine wichtige Rolle im Handel mit dem Osten“ (S.32). „So bot sich den Juden eine neue Erwerbschance, … blieb den Juden fast nur noch das Geldgeschäft und die Pfandleihe als Erwerbsquelle“ (S. 34). „Der wirtschaftliche Anlass dieser Verfolgungen war die einseitige Beschäftigung der Juden mit dem Geldhandel“ (S. 49). Zu den Berufen der Juden gehörte in erster Linie der Geldhandel und die damit verbundene Pfandleihe“ (S. 69). Kein ernsthaft und ehrlich argumentierender Wissenschaftler wird diesen Feststellungen eine judenfeindliche Verabsolutierung unterstellen.
6 Die christliche Kirche als feudale Großgrundbesitzer und als Teil der aristokratischen feudalen Gesellschaft diffamierte das „bürgerliche“ Zinsnehmen für das Christentum als „unchristlich“, als „unmoralisch“ und „sittenwidrig“. Da die ökonomische Entwicklung, die Entwicklung der Produktivkräfte, der Arbeitsteilung und der Warenwirtschaft jedoch als zwangsläufiges ökonomisches Gesetz auch den „Handel mit Geld“, also das Kreditgeschäft hervorbrachte und dieses notwendiger Bestandteil des bürgerlichen Handels wurde, gerieten auch die kirchlichen und weltlichen Feudalherren immer mehr in ökonomische Abhängigkeit von Geldverleihern, der neuen bürgerlichen Klasse der Bankiers. Dies verstärkte erst Recht die Hetze gegen das Zinsnehmen, das die katholische Kirche grundsätzlich als „Wucher“ bezeichnete. Diese Hetze verband sich mit der bereits verbreiteten religiös begründeten Hetze gegen die Juden. Auf die jüdischen Geldverleiher – obgleich sie neben den christlichen Bankiers, eine fast verschwindende Minderheit darstellten – konzentrierte sich der Hass gegen das bürgerliche Handels- und Kreditkapital. Der Begriff „Wucher“, der ursprünglich für Zinsnehmen stand, wurde zu einem Schimpfwort für „Juden“. Zu der, der jüdischen Bevölkerung vorgeworfenen religiösen Unmoral gesellte sich nun noch der Vorwurf der sozialen Unmoral, die Beschimpfung der Juden als „Wucherer“ und „Ausbeuter“.
Wir werden noch sehen, wie der reaktionäre Teil des deutschen Bürgertums sich dieser Demagogie bediente, die jüdische Bevölkerung ebenfalls als „wucherische“ Ausbeuter und als „unmoralische“ Menschen diffamierte, um ihnen die Gleichberechtigung und politische Emanzipation vorzuenthalten und sich mit den reaktionären aristokratischen Dynastien in den deutschen Ländern gegen die demokratisch-republikanischen Revolutionäre zu verbünden.
7 Dass das ökonomische und soziale Leben von Juden in Deutschland in der Realität sehr viel differenzierter war, hatte jede Menge konkrete ökonomische, soziale und kulturelle Gründen, z.B.: Juden wurden Besitzer von Grundstücken, von Weinbergen, die ihnen als Pfand überlassen wurden. Weinanbau und Kelterei nach jüdischen Vorschriften wurde ein Tätigkeitsfeld für Juden. Juden waren Bäcker und Metzger, um Mehl und Fleisch nach jüdischen Vorschriften zu verarbeiten. Juden konnten als Handwerker für Christen in sog. ehrlosen Berufen tätig werden, die nicht in Zünften organisiert waren. Juden handelten mit selbst hergestellten Alltagsgegenständen, Trödel, gebrauchter Kleidung, usw. oder aus Sachen, die aus nicht eingelösten Pfändern stammten. Ansonsten waren Juden bereits ab dem 11. Jahrhundert weitgehenden Handelsbeschränkungen unterworfen und christliche Handelsleute verdrängten systematisch jüdische Händler mit Hilfe von staatlichen und kirchlichen Verboten aus dem gewinnreichen Fernhandel. Auch den wenigen jüdischen Grundherren war gestattet Tagelöhner anzustellen. Durch die Vernichtung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in den deutschen Städten waren die Überlebenden gezwungen zu emigrieren. Sie wanderten aus nach Osteuropa oder zogen von den Städten in die Dörfer. Dort waren sie größten Teils verarmt, lebten als Tagelöhner, wo dies möglich war oder beschäftigten sich als Kleinhändler und als vermittelnde Händler zwischen den Dörfern und den Städten (Getreide- und Viehhandel).
8 Das jüdische Wort iudaizzare, das handeln bedeutet, wurde von den Judenfeinden mit „Zins nehmen“ gleichgesetzt.
9 In der Studie von Ismar Elbogen und Eleonore Sterling heißt es über die Zeit nach den Pogromen im 14. Jahrhundert: „Damit war die mittelalterliche Siedlung der Juden vernichtet. Nur wenige Menschen überlebten“ (Geschichte der Juden in Deutschland, S. 63). „Aber ein Teil der – freilich nach dem Morden von 1348 – 1350 nicht mehr zahlreichen – deutschen Juden blieb im Lande“ (ebd., S. 84).
10 Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft, Band 3, Verlag Olga Benario und Herbert Baum, Offenbach 2018, S. 22.
11 Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Fischer Verlag Frankfurt am Main 1987, S. 32.
12 „Wie im Mittelalter war die jüdische Bevölkerung während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach wie vor weitgehend vom zünftlerischen Handwerk ausgeschlossen. Da man jüdischen Menschen zugleich auch den Klein- und Hausierhandel verbot, (…) nur ausnahmsweise, und zwar vorwiegend Großkaufleuten, Fabrikherren und Bankiers, (wurden) besondere Vorrechte gewährt, die teuer bezahlt werden mussten.“ (Zur Analyse des Kampfes … Band 3, S. 24). Das Handwerk hatte sich gegenüber dem Mittelalter entschieden weiter entwickelt und bot der jüdischen Bevölkerung eine Reihe von Betätigungsfeldern, zumal die zünftlerischen Beschränkungen und die Zünfte im Zuge der Auswirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland entweder aufgelöst waren oder sich in Auflösung befanden. Klein- und Hausierhandel konnte lokal oder regional Beschränkungen unterliegen, grundsätzlich war der sog. „Nothandel“ jedoch für die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung neben der Arbeit als Tagelöhner oder als „Gesinde“ in der Landwirtschaft jedoch die wichtigste Erwerbsquelle zur damaligen Zeit. Da die jüdische Bevölkerung nicht gleichberechtigt war, waren jüdische Personen „Schutzjuden“, sie mussten in der Regel für ihr Niederlassungsrecht „Schutzbriefe“ erwerben. Die relativ kleine Schicht der jüdischen Elite, bestehend aus Großkaufleuten, Fabrikherren und Bankiers hingegen, die ihr privates Vermögen in aller Regel als sog. „Hofjuden“ erworben hatten und daneben weiterhin an den aristokratischen Höfen als Finanziers, Kaufleute usw. tätig waren, hatten viel weitergehende soziale, ökonomische und private Privilegien als die „Schutzjuden“.
13 Die Landtage in den süddeutschen Staaten hatten gegenüber den höfischen Dynastien zwar keine reale Macht, umso mehr stritten Jahrzehnte lang die Konservativen mit den Liberalen um die Frage der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung und nur eine Handvoll Abgeordnete argumentierten für deren sofortige und volle Gleichberechtigung. (Siehe: Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Fischer Verlag Frankfurt am Main 1987).
14 Alle Angaben nach: Horst Fischer: „Judentum, Staat und Heer in Preussen im frühen 19. Jahrhundert“, Leo Baeck Institut, London, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1968, S. 11-14. Ähnlich war die Entwicklung auch an anderen aristokratischen Höfen. David Seligmann, später Freiherr von Eichthal, stammte aus einer „Hoffaktoren“-Familie und wurde 1799 zum „Hofagent“ des badischen Markgrafen und späteren Großherzogs von Baden berufen. Sein Bruder Simon von Eichthal war königlich bayerischer Hofbankier und Mitbegründer der ersten deutschen Bank-Aktiengesellschaft.
15 Das von Arnold Ruge und Karl Marx 1844 in Paris herausgegebene, erste Doppelheft der „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ enthält den Beitrag „Deutsche Zeitungsschau“ von Bernay, der bereits wie Karl Marx für die „Rheinische Zeitung“ geschrieben hatte. Bernay kommentierte in satirischem Stil Pressemitteilungen, um die reaktionären Deutschen Zustände vorzuführen. U.a. enthüllte Bernay die Hintergründe und Intrigen, die zur Vertreibung des „Hofjuden“ Baron Moritz Salomon von Habern vom Hofe des Großherzogs Leopold I. von Baden führten. Moritz von Habern war Hofbankier bei Leopold I. und vermeintlicher Geliebter dessen Frau. Der Bruder Leopold I. hetzte mit Hilfe eines freigelassenen Sträflings den Mob auf, der mit „Hep Hep“ Rufen das Haus des Moritz von Habern stürmte und ihn töten sollte. Da er jedoch dem Mob entkam, verwüstete dieses sein Haus und weitere Häuser jüdischer Familien. (Deutsch-Französische Jahrbücher, 1844, Nachdruck Röderberg-Verlag GmbH Frankfurt am Main 1973, S. 337ff).
16 In dieser Hinsicht sind sich alle Judenfeinde gleich, egal ob sie der jüdischen Bevölkerung unterstellen, das der „wucherische“, „betrügerische“ oder „geldgierige“ Charakter „angeboren“ oder ihrem „jüdischen Glauben immanent“ oder ob er über die Jahrhunderte „erworben“ sei.
17 Grundsätzlich ist es angesichts der Jahrtausende Jahre existierenden Judenfeindschaft schon immer problematisch die „jüdische“ Abstammung, Religion oder Nationalität eines Bourgeois zu benennen oder gar hervorzuheben, denn dies zeugt nicht von einer angemessenen Rücksichtnahme und einer erforderlichen Abgrenzung zu den Judenfeinden. Dies gilt insbesondere auf Grund der letzten ca. 150 Jahre in Deutschland, die von einem extremen „Antisemitismus“, „antijüdischen Rassismus“ und der „NS-Endlösung“, d.h. der Vernichtung der europäischen Juden gekennzeichnet sind. Es ist auch weder wissenschaftlich korrekt noch irgendwie sinnvoll, da das kapitalistische Bürgertum egal welcher Abstammung, welcher Nationalität oder welchen Glaubens letztlich von seinen ökonomischen Interessen geleitet wird. Trotzdem finden wir z.B. in Schriften von Heinrich Heine, Karl Marx oder Friedrich Engels die Zuschreibung „jüdisch“ zum Bankier „Rothschild“. Ist dies also bereits ein Hinweis oder gar ein Beleg für deren Judenfeindschaft? Aus heutiger Sicht zeugt es nicht von Sensibilität der jüdischen Bevölkerung gegenüber, die als unterdrückte Minderheit diskriminiert und verfolgt wurde und immer noch wird. Es ist aber auch Zeugnis dessen, dass Menschen jeder Religion, jeder Abstammung und jeder Nationalität in allen Klassen und Schichten der bürgerlichen Gesellschaft zu finden sind. In der Phase der Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse konnte für die Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung die nationale Zuschreibung eine gewisse Berechtigung haben. Es muss uns aber heute bewusst sein, dass eine solche Zuschreibung keinerlei theoretische Aussagekraft hat und angesichts der Judenfeindschaft grundsätzlich abzulehnen ist, da die Zuschreibung der Religionszugehörigkeit oder Abstammung nur Wasser auf die Mühlen der Judenfeinde wäre.