September/Oktober 2022 – FIPS-NEWS Nr. 49: Pädagogisches Konzept zum Schutz vor sexueller Gewalt in Kinder- und Jugendvereinen

Die Offenheit der Kommunikation in Kinder- und Jugendvereinen über die Gefahren von körperlichen und insbesondere auch den Gefahren von sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt dient dem Schutz und der Hilfe der Betroffenen.

MEIN NEIN MEINT NEIN!

Alle Gremien eines Vereins, einer Initiative oder Organisation – von oben bis nach unten zu den Teamer:innen an der Basis – tragen gleichermaßen Verantwortung und Sorge dafür, sich schützend vor alle Betroffene zu stellen.

(Eiserner Steg in Frankfurt am Main, 2020, Foto: © Peter Milde)

Im Zentrum aller Diskussionen und Interventionen sollte die Unterstützung der Betroffenen von sexuellen Übergriffen und Gewalt sein, denn diese müssen unmittelbar erfahren können und sicher sein, ernst genommen zu werden und Hilfe zu erhalten.

Es sollte jedoch nicht der Eindruck entsteht, man könne sich gegen unberechtigte Beschuldigungen nicht verteidigen.

Das Ziel sollte sein, eine Atmosphäre der offenen Kommunikation über die Gefahren sexueller Gewalt im Verein oder in Initiativen und unter den Teilnehmer:innen an Veranstaltungen, Reisen, usw. sicher zu stellen. Niemand sollte annehmen, dass in „seinem:ihrem“ Verein so etwas nicht vorkommen könne.

Bei Veranstaltungen, Reisen, Camps usw. sollte möglichst in der Anfangs-/Begrüßungsrunde dem Thema angemessen Zeit eingeräumt werden, damit allen Teilnehmer:innen klar wird, dass es möglich ist, vertrauensvoll Grenzverletzungen oder Gewalterfahrungen mitzuteilen und Unterstützung zu erhalten.

Sexuelle Übergriffe“ unter Jugendlichen sind zu unterscheiden von „sexuellem Missbrauch“ durch Erwachsene.

Ein Schutzkonzept sollte die betroffenen Kinder und Jugendlichen in den Fokus rücken, indem es aufklärt, dass „Macht“, „Unfreiwilligkeit“ und „Zwang“ in Beziehungen und in der Sexualität keinen Platz haben dürfen.

Mit Kindern und Jugendlichen sollten altersgemäß Grenzüberschreitungen – thematisch, nicht Fall bezogen – präventiv angesprochen und Umgangsregeln oder ein Verhaltenskodex abgesprochen werden.

Hierbei ist die Partizipation der Kinder und Jugendlichen ein zentrales Axiom. Wir sollten daher danach fragen, was den Kindern und Jugendlichen wichtig ist. Wir sollten sie auffordern, sich dazu zu äußern, welches Verhalten sie als Grenzüberschreitung ansehen. Mit ihnen sollten Umgangsregelungen über Nähe und Distanz abgesprochen und festgelegt werden und welches Verhalten nicht in Ordnung ist und nicht akzeptiert wird. Auf diese Weise können Teamer:innen, Betreuer:innen und Gruppenleiter:innen den Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass sie Schutz finden können und Reaktionen einfordern dürfen. Sie erfahren zugleich, dass nicht über ihre Köpfe und Bedürfnisse hinweg eingegriffen wird.

Von besonderer Bedeutung ist auch ein digitales Schutzkonzept. Eindeutig sollte vermittelt werden, dass Niemand ohne seine:ihre Einwilligung gefilmt werden darf. Eindeutig muss vermittelt werden, dass das Filmen von Intimem und das Verbreiten des Gefilmten grundsätzlich untersagt ist.

In den Gruppen oder den Teilnehmer:innen ist eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern, indem

  • der Geheimhaltungsdruck und das Machtgefälle in der Gruppe angesprochen und hinterfragt wird,
  • das Beschwerdesystem auch anonyme Berichte ermöglicht,
  • Personen mit Erfahrungen sexueller Gewalt, Übergriffen und Grenzüberschreitungen sich sicher sein können, gehört und aufgefangen zu werden und Hilfe und Unterstützung zu erhalten,
  • nicht pauschale Beschuldigungen erhoben und verbreitet werden.

Ein Schutzkonzept und Interventionen dienen der Sicherheit. Rehabilitation umfasst den Schutz aller Betroffenen. Ein Interventionsplan bezieht daher alle Betroffenen und u.U. auch die Beratung und Hilfe von Externen ein.

Zwei Aspekte sind bei internationalen und interkulturellen Begegnungen zu beachten:

  • Was ist bei intimen Kontakten in internationalen Begegnungen im Ausland zu beachten? Wie kann mit Grenzüberschreitungen im Ausland umgegangen werden? Welche kulturellen Traditionen oder Regeln sollte man kennen und beachten?
  • Welche besonderen sexual-pädagogischen Interventionen in interkulturellen Begegnungen mit geflüchteten Jugendlichen sind erforderlich? Etwa Informationen über Bekleidung.

Neben diesen Grundeinstellungen sollten klare Regelungen zum Schutz für Kinder, Jugendliche und Teamer:innen aufgestellt werden. Der Anspruch sollte sein, diese Regelungen auf allen Ebenen und in allen Bereichen umzusetzen:

  • In Seminaren, Schulungen, Diskussionen, Beratungen soll sich regelmäßig mit der Thematik sexueller Übergriffe und sexueller Gewalt auseinander gesetzt werden.
  • Im Zentrum sollte hierbei der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und Gewalt von Erwachsenen stehen.
  • Es geht aber auch um unsere Haltung zum Umgang von Jugendlichen untereinander, in denen Erfahrungen mit Sexualität, Zärtlichkeit, Liebe und Annäherung in der Persönlichkeitsentwicklung zu respektieren sind.
  • Bei allen Maßnahmen, internationalen Begegnungen, Camps, Seminaren, Freizeiten usw. sollte in einfachen Worten das Schutzkonzept allen Teilnehmenden vorgestellt, erklärt und die konkreten Möglichkeiten des Schutzes der Betroffenen aufgezeigt werden.
  • Das Schutzkonzept sollte möglichst in Einrichtungen, Räumen oder Herbergen ausgehängt werden. Eine Kurzfassung als auffallendes „roll-up“ kann dessen Wichtigkeit unterstreichen.
  • Es sollten konkrete Ansprechpersonen benannt werden, an die sich Betroffene wenden können (sowohl auf der Ebene der konkreten Maßnahme als auch auf Vereinsebene).
  • Es kann angestrebt werden, auch eine externe Telefonnummer den Teilnehmenden einer Maßnahme mitzuteilen, die angerufen werden kann, um Rat zu holen oder eine:n Experten:in zu beauftragen, die konkrete Beschuldigung, den konkreten Vorfall zu prüfen. Dies kann auch eine vom Verein unabhängige Einrichtung sein.
  • Die Ansprechperson für Betroffene in Seminaren, Freizeiten, usw. sollte qualifiziert sein. Dies ist etwa bei „Wildwasser“ möglich. Die Kosten sollte der Verein, die Initiative übernehmen.
  • Bei Grenzüberschreitungen und sexuellen Übergriffen müssen pädagogische Interventionen durch die Teamer:innen erfolgen. Die Angaben, die die Betroffenen von sexuellen Übergriffen machen, sind in jedem Falle ernst zu nehmen. Bei allen Interventionen ist unbedingt der Wille des:der Betroffenen ausschlaggebend. Interventionen können auch Sanktionen sein. Präventiv sollten in Jugendleiter:innenausbildungen (Juleica) mögliche Interventionen, Sanktionen an fiktiven Fallbeispielen besprochen werden.
  • In Anlehnung an § 8a Abs. 4 SGB VIII: Werden Teamer:innen, Betreuer:innen, Gruppenleiter:innen gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, besprechen sie dies im Team, schätzen das Gefährdungsrisiko ein und verständigen sich über geeignete Maßnahmen (Interventionsplan). Hierbei entscheiden sie gem. § 8b Abs. 1 SGB VIII, ob über den örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft angefordert wird. Das jeweilige Team soll in einem solchen Fall die Verdachtsmomente, die Hinweise und die Ergebnisse ihrer Besprechungen und Maßnahmen mit Angabe des Datums und der beteiligten Personen sowie die veranlassten Maßnahmen dokumentieren.
  • Im Einzelfall kann im Interventionsplan die Beratung durch erfahrene Fachkräfte von speziell qualifizierten Einrichtungen, wie sie in vielen Orten existieren (z.B. „wildwasser“, „männerzentren“, „fem“ Mädchenhaus Frankfurt oder „kuss41“ Queeres Jugendzentrum Frankfurt) aufgenommen werden.
  • Sollte es zu Konflikten, zu kontroversen Aussagen oder Beschwerden kommen, so hat jede Seite das Recht, gehört zu werden.
  • Teamer:innen sollten über den Anspruch gem. § 8b Abs. 2 auf Beratung durch den überörtlichen Träger der Jugendhilfe bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt und zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten informiert sein.
  • Gemäß § 72a SGB VIII hat jede Leitungsperson ein erweitertes Führungszeugnis nach § 30a Bundeszentralregistergesetzes beizubringen.
  • Bei schwerer Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen sind der Vorstand des Vereins, der Jugendinitiative, die Eltern und ggf. das Jugendamt zu benachrichtigen, bzw. gar Anzeige zu erstatten.

Vorschlag für ein Leitbild:

Wir wollen

  • über sexuelle Gewalt informieren,
  • das Thema nicht als Tabu behandeln, als würde es uns nicht betreffen,
  • über Fortbildungsangebote in der Jugendleiter:innenschulung verfügen,
  • das Schutzkonzept den Teilnehmer:innen an unseren Maßnahmen erklären,
  • Hinweisen auf sexuelle Gewalt nachgehen,
  • das Thema nicht nur als ein individuelles Thema, sondern auch als ein gesellschaftliches Phänomen betrachten.

25.10.2022 Dr. Peter Milde

Anlagen

§ 8a Abs. 4 SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung

(4) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass 1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, 2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie 3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.

In die Vereinbarung ist neben den Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.

§ 8b SGB VIII Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen

(1) Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.

(2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die zuständigen Leistungsträger, haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien 1. zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie 2. zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten.

§ 72a SGB VIII Tätigkeitsausschluss einschlägig vorbestrafter Personen

(1) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe dürfen für die Wahrnehmung der Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe keine Person beschäftigen oder vermitteln, die rechtskräftig wegen einer Straftat nach den §§ 171, 174 bis 174c, 176 bis 180a, 181a, 182 bis 184g, 184i, 201a Absatz 3, den §§ 225, 232 bis 233a, 234, 235 oder 236 des Strafgesetzbuchs verurteilt worden ist. Zu diesem Zweck sollen sie sich bei der Einstellung oder Vermittlung und in regelmäßigen Abständen von den betroffenen Personen ein Führungszeugnis nach § 30 Absatz 5 und § 30a Absatz 1 des Bundeszentralregistergesetzes vorlegen lassen.

(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe sicherstellen, dass diese keine Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, beschäftigen.

(3) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen sicherstellen, dass unter ihrer Verantwortung keine neben- oder ehrenamtlich tätige Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, in Wahrnehmung von Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe Kinder oder Jugendliche beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. Hierzu sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe über die Tätigkeiten entscheiden, die von den in Satz 1 genannten Personen auf Grund von Art, Intensität und Dauer des Kontakts dieser Personen mit Kindern und Jugendlichen nur nach Einsichtnahme in das Führungszeugnis nach Absatz 1 Satz 2 wahrgenommen werden dürfen.

(4) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen durch Vereinbarungen mit den Trägern der freien Jugendhilfe sowie mit Vereinen im Sinne des § 54 sicherstellen, dass unter deren Verantwortung keine neben- oder ehrenamtlich tätige Person, die wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist, in Wahrnehmung von Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe Kinder oder Jugendliche beaufsichtigt, betreut, erzieht oder ausbildet oder einen vergleichbaren Kontakt hat. Hierzu sollen die Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit den Trägern der freien Jugendhilfe Vereinbarungen über die Tätigkeiten schließen, die von den in Satz 1 genannten Personen auf Grund von Art, Intensität und Dauer des Kontakts dieser Personen mit Kindern und Jugendlichen nur nach Einsichtnahme in das Führungszeugnis nach Absatz 1 Satz 2 wahrgenommen werden dürfen.

(5) Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe dürfen von den nach den Absätzen 3 und 4 eingesehenen Daten nur den Umstand, dass Einsicht in ein Führungszeugnis genommen wurde, das Datum des Führungszeugnisses und die Information erheben, ob die das Führungszeugnis betreffende Person wegen einer Straftat nach Absatz 1 Satz 1 rechtskräftig verurteilt worden ist. Die Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe dürfen diese erhobenen Daten nur speichern, verändern und nutzen, soweit dies zum Ausschluss der Personen von der Tätigkeit, die Anlass zu der Einsichtnahme in das Führungszeugnis gewesen ist, erforderlich ist. Die Daten sind vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen. Sie sind unverzüglich zu löschen, wenn im Anschluss an die Einsichtnahme keine Tätigkeit nach Absatz 3 Satz 2 oder Absatz 4 Satz 2 wahrgenommen wird. Andernfalls sind die Daten spätestens drei Monate nach der Beendigung einer solchen Tätigkeit zu löschen.

§ 73 SGB VIII Ehrenamtliche Tätigkeit

In der Jugendhilfe ehrenamtlich tätige Personen sollen bei ihrer Tätigkeit angeleitet, beraten und unterstützt werden.

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