September 2021 – FIPS-NEWS Nr. 37: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 1)
Editorial
Mit Verspätung veröffentlicht FIPS nun das Essay „Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“. Dieses FIPS-News enthält das Kapitel 1. Die nächsten Kapitel werden in den folgenden FIPS-News veröffentlicht.
10.08.2022 Dr. Peter Milde
Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft
Vorbemerkung
Angesichts der Vielfältigkeit der judenfeindlichen Erscheinungen in Deutschland, erscheint uns die Beschäftigung mit der Vergangenheit lehrreich, um die Quellen, die Formen und Inhalte der Judenfeindschaft heute besser zu verstehen und einen Beitrag zum Kampf gegen die Judenfeinschaft heute zu leisten.
Judenfeindschaft beginnt nicht erst mit Anschlägen, Angriffen, Morden oder Pogromen. Judenfeindschaft kommt heute auch unter dem Mantel der „Kritik“ – etwa als Antizionismus oder postkolonialer Kritik an Israel daher. Hierbei wird sich gerne der Methode bedient: „Kritik wird ja wohl noch erlaubt sein“. Dies suggeriert zum einen, als wäre Kritik verboten und es suggeriert zum anderen, als wären judenfeindliche Kritiker „Opfer“. Die „Täter-Opfer-Umkehr“ ist eine immer wieder neu aufgelegte Methode. Kritik muss jedoch dort bekämpft werden, wo es sich um Judenfeindschaft handelt. Dies gilt auch für Kritik an Israel. Kritiken, die doppelte Standards anwenden, Übertreiben oder mit Fake-News arbeiten oder sich mit der Hamas solidarisieren, sind keine Kritik, sondern sind Ausdruck von Israel-Feindschaft. Wir erleben seit Jahren, dass diese Arten von „Kritiken“ immer mehr in der Mitte der deutschen Gesellschaft ankommt, sei in Form der Verteidigung der BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“), sei es in Form eines Gedichts von Günter Grass („Was gesagt werden muss“), sei es im Diskurs über Postkolonialismus (Debatte um die Standpunkte von Achille Mbembe), sei es in Form politisch-kultureller Judenfeindschaft auf der diesjährigen „15. Dokumenta“ in Kassel.
Wir sollten kritisch hinterfragen, wie diese Entwicklung der Judenfeindschaft in Deutschland möglich wurde, angesichts einer offiziellen Erinnerungskultur in Deutschland. Ist die Art und Weise der Erinnerungskultur in Deutschland nicht in der Lage, präventiv der Judenfeindschaft zu begegnen? Ist die deutsche Erinnerungskultur an den Holocaust ein „Gedächtnistheater“, eine „inszenierte Erinnerung“, um die Schuld der Deutschen an der NS-Judenvernichtung als „historisch“ an Erinnerungsorten abzulegen und auf Erinnerungstage zu begrenzen und der Frage aus dem Weg zu gehen, „Was haben wir heute damit zu tun?“ (Siehe hierzu: Max Czollek, Desintegriert Euch!, Carl Hanser Verlag, München 2020).
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Dieses Essay erhebt nicht den Anspruch, jede judenfeindliche Strömung und Ideologie in der Geschichte zu behandeln und zu kritisieren. Es sollen jedoch die Kontinuitätslinien der Judenfeindschaft in der Geschichte und ihr Zusammenhang zur ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung aufgezeigt werden.
Gerade auch angesichts mehr oder weniger aktueller Diskurse über geschichtliche Akteure1 im Kampf gegen Judenfeinde kritisieren wir auch Positionen, die gegen die Judenfeinde und deren Judenfeindschaft vorgetragen wurden, die sich bei genauerer Betrachtung jedoch als Zugeständnisse an Judenfeindschaft oder gar als neue Varianten judenfeindlicher Positionen herausstellen.
31.7.2022 Dr. Peter Milde
1. Zur Judenfeindschaft im Mittelalter
Mitunter werden in wissenschaftlichen Publikationen objektiv-materialistische Analysen der Geschichte der Ideologie und Politik der Judenfeindschaft als „plump-materialistische (ökonomistische) Analysen“ oder Analysen des Zusammenhangs der ökonomischen Basis der Gesellschaft mit der Entwicklung judenfeindlicher Politik und Ideologie werden als „rein ökonomisch“ oder als Übertragung „mechanisch eins zu eins“ abgetan. Besondere Blüten treiben solche Auffassung, wenn in den geschichtlichen Abläufen der jeweiligen Ausbrüche judenfeindlicher Diskriminierungen, Verfolgungen, Vertreibungen und Pogromen „außer dem Element der Willkür keine wirkliche Systematik erkennbar ist“.2 Es ist jedoch keinesfalls „Willkür“ der Judenfeinde, die einmal mit Diskriminierungen, ein anderes Mal mit Verfolgungen und ein weiteres Mal mit mörderischen Attacken gegen die jüdische Bevölkerung vorging.3
In der Geschichte des Mittelalter und der Neuzeit in den Deutschen Ländern wird – statt der „Willkür“ – der Zusammenhang von Judenfeindschaft und der Ideologie und Politik der herrschenden Klassen und ihrer religiösen-ideologischen Eliten sehr deutlich.
Solange das Judentum – im wahren Sinne des Wortes – überlebte, war es der Stachel im Fleisch des Christentums, der christlichen Kirche und der christlichen dynastischen deutschen Länder und Staaten. Juden wurden Jahrhunderte lang als
- „teuflisch“ („Geschöpfte des Teufels“,4 „dämonische Riten“, wie „Hostienfrevel“ und „magische Macht“, wie „Brunnenvergifter“ und „Verursacher der Pest“),
- „unmoralisch“ (Unterstellung „sexueller Ausschweifungen und Andersartigkeit“, „Judensau“ – diffamierende Reliefs an den christlichen Kirchen),
- „mörderisch“ (als „Mörder von Jesus“5 und als „Gottesmörder,6 als „Mörder von Christenkindern“), und
- „wucherisch“ (als „Geldverleiher“, „Ausbeuter“, „Betrüger“ und als „ethnische Basis der kapitalistischen Finanzwirtschaft“ diffamiert.
Die christliche Judenfeindschaft hatte jedoch bereits im Mittelalter nicht nur religiöse Gründe, sondern war die Antwort der christlich-feudalen herrschenden Klassen und der christlich-mittelalterlichen dynastischen Staaten auf die ständige Herausforderung des Judentums als eigenständiger religiös-ideologischer und sozialer Alternative. Allein die Existenz des Judentums als besondere religiöse und soziale Gemeinden innerhalb der christlich-dynastischen Staaten stellte eine Herausforderung dar, die als Gegenentwurf zur ökonomischen, sozialen und religiösen Ordnung von den Herrschenden nicht geduldet und akzeptiert wurde.
Im 8. und 9. Jh. standen die jüdischen Gemeinden im Reich der Karolinger (vor allem im Rheintal, aber etwa auch in Trier, Magdeburg und Regensburg) unter dem Schutz des Kaisers. Sie erhielten kaiserliche Schutzbriefe, da sie auf Grund ihrer Verbindungen als Handelsleute im Fernhandel für den Kaiser nützlich waren. Die Schutzbriefe gestatteten den jüdischen Gemeinden nach den jüdischen Religionsgesetzen zu leben. Einige am kaiserlichen Hof verkehrende Juden kamen durch den Fernhandel zu Geldreichtum und betätigten sich in Folge auch als Geldverleiher gegenüber Adligen. Doch die jüdische Bevölkerung und selbst die wenigen Wohlhabenden unter ihnen waren keinesfalls gleichberechtigt. Im Gegenteil gerieten die Juden durch die Schutzbriefe in Abhängigkeit von Kaiser und Königen und mussten diesen „Schutz“ mit mindestens 10% ihrer Einkünfte bezahlen.
Die jüdische Bevölkerung lebte, ähnlich wie andere Migrant:innen, in eigenen Gemeinden (Enklaven) in den großen Städten des Mittelalters im gesamten sogenannten „Heiligen Römischen Kaiserreich Deutscher Nation“. Dort konnten sie ihre eigene Identität leben und entwickeln (ihre eigene – aus dem alten Judentum hervorgegangene – rabbinisch-jüdische Religion mit ihren sich entwickelnden kulturellen Sitten, Gebräuchen, ihrer eigenen zivilen Rechtsprechung und ihren eigenen Sprachen, die von Land zu Land und von Jahrhundert zu Jahrhundert keinesfalls einheitlich waren).
Im 11. Jahrhundert nahm die Verelendung der Bevölkerung in der Mitte Europas große Ausmaße an, da die Ausbeutung durch die Feudalherren den Bauern kaum genug Lebensmittel zum Überleben ließ. Da der Lohn der eigentumslosen Tagelöhner:innen und Arbeiter:innen in den Städten zum Überleben nicht ausreichte, suchten viele ihr Heil in Bettelei und Dieberei, andere hingegen entwarfen alternative gemeinschaftliche Lebensentwürfe und wurden als „Ketzer:innen“ und „Hexen“ verfolgt. Andere Teile der demoralisierten Bevölkerung verfielen in einen religiösen Wahn und wurden anfällig für alle möglichen christlichen Heilsversprechen. Sie zogen plündernd etwa als „Flagellanten“ durch die Lande und hielten sich für berufen, die Juden als Feinde des Christentums auszurauben und zu ermorden.
Andere Teile der Bevölkerung erkannten den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung durch die christliche Kirche, den feudalen Staat, die feudalen Gutsbesitzer und die bürgerlichen Patrizier einerseits und ihrer elenden Arbeits- und Lebensbedingungen andererseits. Sie entwickelten antifeudale und antikatholische Utopien und setzten diese in ihren Gemeinden, wie die Albigenser und Waldenser, gegen den Widerstand der katholischen Kirche und der Aristokratie um.
Es ist daher kein Zufall, dass der erste Kreuzzug Ende des 11. Jh. und der zweite Kreuzzug Mitte des 12. Jh. (die die sog. „Heiligen Stätten“ in Jerusalem von den „heidnischen“ Arabern zurück erobern sollten) mit Massakern an der jüdischen Bevölkerung in der Mitte Europas begann7 und in Europa – vor allem im Rheintal, in Süddeutschland, in Südfrankreich und Norditalien – gegen die „ketzerischen“ antifeudalen Bewegungen und gegen die jüdische Bevölkerung vorgingen.
Die Pogrome an der jüdischen Bevölkerung während der ersten beiden Kreuzzüge sind nicht nur zeitlich, sondern auch in ihren Motiven und Absichten eng verknüpft mit den Massakern an den aufständischen Bauern auf dem Land, an den plebejischen Massen in den Städten und den konterrevolutionären Kriegen gegen die „häretischen“, anti-katholischen Bewegungen.8
Ein wichtiger historischer Einschnitt war das Konzil der katholischen Kirche von 1215 (das sog. 4. Laterankonzil). Auf dem Konzil waren nicht nur Kirchenobere, sondern auch die Eliten der christlichen Staaten (Könige, Fürsten) vertreten. Auf dem Konzil wurden wesentliche christliche Herrschaftsprinzipien des Mittelalters festgeschrieben, die nicht nur Bedeutung für die Kirche hatten, sondern die auch die Machtaufteilung und -ausübung in der feudalen Gesellschaft zwischen Kirche und Staat betrafen. Auf diesem Konzil wurde das sogenannte „Papstprimat“ verkündet, d.h. der Bischof von Rom wurde als Papst zum Führer der gesamten Christenheit erklärt. Damit wurde erneut der Vorrang der religiösen Macht über die dynastisch-staatliche Macht bestätigt. Außerdem wurde das Dogma der Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi in der „Heiligen Messe“, der „Eucharistie“ verkündet.
Dieses Konzil exkommunizierte und bannte alle „Häretiker“, ohne etwa die Katharer oder Waldenser namentlich zu nennen. Den Teilnehmern an den Kreuzzügen gegen die Häretiker wurde freie Hand zum Plündern, Foltern und Morden gegeben. Darüber hinaus wurden Beschlüsse zur Ausgrenzung, Diffamierung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung verkündet: Juden wurden wegen „schweren und unmäßigen Wuchers“9 diffamiert; Juden hatten eine besondere Kleidung zu tragen, damit kein Christ sich mit ihnen „irrtümlich“ einließ; Juden durften keine öffentlichen Ämter bekleiden, damit sie keine Macht über Christen erlangten. Viele der Beschlüsse des 4. Laterankonzils dienten zur Rechtfertigung der Kreuzzüge gegen die sogenannten „Ketzer“ und „Häresien“ und der Verfolgungen und Pogromen an der jüdischen Bevölkerung.
In diesem Zusammenhang ist es auch bedeutsam, dass die antifeudalen Bewegungen etwa der Katharer (Albigenser) und Waldenser im Wesentlichen tolerant gegenüber der jüdischen Bevölkerung waren. Das gesamte Mittelalter hindurch erfuhr die jüdische Bevölkerung weitgehend Solidarität von diesen sog. häretischen aufständischen Bewegungen. Es scheint einleuchtend zu sein, dass die gegen die feudale Herrschaft und Ausbeutung durch den Adel und die Kirche kämpfenden Bauern und Bäuerinnen auf dem Land und der Plebejer:innen in den Städten schon deshalb tolerant und solidarisch mit den Juden waren, weil auch diese – wie die „Häretiker“ – von der Kirche und der Aristokratie und den adeligen Herren bekämpft wurden.
Auch Mitte des 13. Jahrhunderts setzte die Verfolgung und Ermordung sog. „Hexen“ ein, die im 15. Jahrhundert mit der Verbrennung von zehntausenden und der Verurteilung von mehr als einer Millionen Frauen in den deutschen Ländern ein extremes Ausmaß erreichte. Auch zwischen der Bekämpfung der „Ketzer“ und der „Hexen“ besteht ein enger Zusammenhang, setzten sich doch in den aufständischen antifeudalen Bewegungen die Frauen für ihre Gleichberechtigung ein. Die Verfolgung durch die katholische Geistlichkeit – im 13. Jh. begann die Inquisition ihr Unwesen zu treiben – und durch die staatlichen Institutionen traf also sowohl die „Häretiker“ als auch die als „Hexen“ diffamierten unabhängig und selbständig lebenden und produzierenden Frauen sowie die jüdische Bevölkerung.
Bereits Thomas von Aquin (1225-1274) hatte den christlichen Glauben an Dämonen, Hexerei und Magie zu einer systematischen christlichen Doktrin ausgebaut. Ketzer, Hexen und Juden galten alle als mit dem Dämon (Teufel) im Bunde stehend. Schon lange unterstellte die katholische Kirche den Juden, des Teufels Gesellen zu sein, und verbreitete entsprechende Lügen von angeblich „teuflischen“ und „dämonischen“ Riten (Ritualmorde, Schadenzauber, Brunnenvergiftung, Hostienfrevel).
Ähnlich verfuhr die katholische (= allumfassende) Kirche mit den „Ketzern“. Da die katholische Kirche neben sich keinen anderen Glauben und auch keinen anderen Gesellschaftsentwurf dulden konnte, diffamierte sie die „Ketzer“ als Verbündete des Teufels. Ihr ideologisch-religiöser Alleinvertretungsanspruch war zugleich der Anspruch der aristokratischen Klassen auf Herrschaft und feudale Ausbeutung der Bevölkerung.
Unabhängige und selbständig arbeitende Frauen stellten für die angeblich „göttliche“ Ordnung der Gesellschaft eine Herausforderung dar. Es war daher nur folgerichtig und ein Einfaches für die christlichen kirchlichen und weltlichen Herrscher die „dämonische Verschwörung“ nun auch auf die „Ketzer“ und „Hexen“ zu übertragen.
So erhielt die Solidarität der als „Ketzer“ diffamierten Rebellen mit der jüdischen Bevölkerung und die weitgehende Anerkennung der Gleichberechtigung der Frauen in den antifeudalen Bewegungen eine gemeinsame objektive Grundlage: die christliche Kirche und die christliche Inquisition verfolgte und ermordete unabhängige und selbständig lebende und produzierende Frauen als Hexen und Bräute des Teufels. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich („Hexensabbat“) wird die Parallele zur Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung während der Kreuzzüge, die von der christlichen Kirche als „Ausgeburten und Verbündete des Teufels“ diffamiert wurden, augenfällig.10
Durch die der jüdischen Bevölkerung von der christlichen Kirche und den christlichen Staaten aufgezwungenen ökonomischen, sozialen und politischen Beschränkungen und Diskriminierungen wurde nicht nur die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung gefestigt, sondern es wurde damit gegen die jüdische Bevölkerung ständig eine latente Feindschaft geschürt und am Leben gehalten.
Judenviertel und Judengassen, in denen mehrheitlich die jüdische Bevölkerung in Städten lebte, wurden mit Mauern und Toren umgeben, sodass die jüdische Bevölkerung quasi eingesperrt wurde. Diese Ghettoisierung schürte die Judenfeindschaft weiter an.
Zugleich wurde die Ursache der Ausgrenzung, Diffamierung, Diskriminierung, Verfolgung, der Pogrome und der Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung selbst in die Schuhe geschoben, indem den „Juden“ ihre Existenz, ihre eigene religiöse, ethische, nationale, soziale, ökonomische und ideologische Identität zum Vorwurf gemacht und als Grund für alle möglichen Vorurteile, Lügen und Verleumdungen ausgegeben wurden.11
Im gesamten Mittelalter wurde so mit religiöser Demagogie die Einstellungen, das Denken, die Emotionen und das Verhalten der zu tiefst gläubigen christlichen Bevölkerung gegenüber der jüdischen Bevölkerung vergiftet.
Auf diese latent existierende Feindschaft gegen die jüdische Bevölkerung konnten in Europa die christlichen herrschenden Klassen der Aristokratie und der katholischen Kirche in Krisenzeiten zurück greifen, um die Wut der christlichen Bevölkerung wegen allerlei Missständen und Krisen in Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung um und ab zu leiten.
1298 zogen aufgehetzte Horden von Tausenden christlichen Fanatikern durch Franken, Bayern und Österreich und ermordeten mehr als 100.000 Juden. Anlass bot die Lüge vom Hostienfrevel: Den Juden wurde vorgeworfen, sie würden die geweihten Hostien schänden, die die katholische Kirche inzwischen zum „Leib und Blut Jesus“ erklärt hatte. Weitere Pogrome wurden durch die Lüge vom „Ritualmord“ an christlichen Kindern ausgelöst.
1336/1337 war es die Lüge von den Juden als „Christusmörder“, die erneut Tausende von aufgehetzten christlichen Fanatikern, die sich „Judenschläger“ nannten, zu Pogromen im Elsass, Schwaben und im Rheintal antrieb. Tausende von Mitgliedern der jüdischen Gemeinden wurden auf Grund christlicher Grausamkeit und christlicher Glaubenslügen im Namen der Rache für den „Mord an Christus“ ermordet.
Wer bisher die Massaker in den jüdischen Gemeinden überlebt hatte, fiel den Pogromen Mitte des 14. Jahrhunderts zum Opfer. Aufgehetzte Massen, bar jeder Menschlichkeit, schlachteten wie im Rausch die jüdische Bevölkerung ab, da sie als Verursacher des Elends, der Armut und nicht zuletzt der Pest („Brunnenvergiftung“) angesehen wurden. In einigen Orten wurden Juden auf Scheiterhaufen verbrannt. Ca. 350 jüdische Gemeinen wurden in den deutschen Ländern ausgelöscht.
Nach den Bauernkriegen 1525 wurden von staatlicher Seite auch noch die restlichen jüdischen Gemeindemitglieder vertrieben oder ermordet. Danach lebten nur noch wenige Juden in Deutschland und von diesen wanderten viele nach Osteuropa aus.
(Fortsetzung folgt).
31.07.2022 Dr. Peter Milde
Endnoten:
1 So veröffentlichte die FAZ am 1.4.2022 den Beitrag von Kevin Hanschke zu Johannes Reuchlin, einem Humanisten und Wegbereiter des Protestantismus in Deutschland, anlässlich seines 500. Todestages. Siehe: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wer-will-sich-ihm-vergleichen-17924078.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3
2 Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft (Band 1), Verlag Olga Benario und Herbert Baum, Offenbach 2014, S. 20-22.
3 Es sind reale – objektive und subjektive – ökonomische und gesellschaftliche Gegebenheiten, die das jeweilige Handeln der Akteure der verschiedenen Klassen bestimmen und nicht die „Willkür“ oder der „Wille“ der Regenten oder der Anführer handelnder Gruppen. Der handelnde Willen und das willentliche Handeln der Klassen, bzw. ihrer Eliten haben ihre letztendlichen Ursachen in ihren unterschiedlichen ökonomischen Interessen, deren Wurzeln wiederum im Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte (z.B. Arbeitsteilung, Werkzeuge, Maschinen, Transportmittel usw.) und den zurückgebliebenen Produktionsverhältnissen (z.B. Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus) liegen. Die „Politische Ökonomie“ als Basis der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Klassenkämpfe und ihre Widerspiegelung in den Ideologien und den ideologischen Kämpfen der Klassen – dies sind auch die Grundlagen der Entwicklung der Politik und Ideologie der Judenfeindschaft, die in den verschiedenen Formen, Ausprägungen und Eskalationsstufen der judenfeindlichen Praxis ihren Ausdruck finden.
4 Evangelium des Johannes, Joh. 8,44.
5 Paulus war der erste, der die Juden verantwortlich für den Tod Jesus machte: „Die Juden haben unseren Herrn Jesus getötet … und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen Feind.“ (1 Thess. 2,15),
6 Die Passionsgeschichte in Verbindung mit dem Dogma des Konzils von Nicäa von 325, das Jesus zum Gott ernannte, machte die Juden im christlichen Glauben zu Gottesmördern.
7 Im ersten Kreuzzug 1096 ermordete die aufgehetzte Menge die jüdische Bevölkerung in Mainz, Worms, Speyer, Trier und Köln. Mindestens 12.000 der jüdischen Bewohner wurden getötet. Auch zu Beginn des zweiten Kreuzzugs 1146 wüteten die aufgehetzten Massen in den Städten im Westen Deutschlands und mordeten erneut unter der jüdischen Bevölkerung.
„Die Kreuzzüge fingen sogleich unmittelbar im Abendlande selbst an, viele Tausende von Juden wurden getötet und geplündert, – und nach diesem fürchterlichen Anfange zog das Christenvolk aus. Der Mönch, Peter der Einsiedler aus Amiens, schritt mit einem ungeheuren Haufen von Gesindel voran. Der Zug ging in der größten Unordnung durch Ungarn, überall wurde geraubt und geplündert, der Haufen aber selbst schmolz sehr zusammen, und nur wenige erreichten Konstantinopel. Denn von Vernunftgründen konnte nicht die Rede sein; die Menge glaubte, Gott würde sie unmittelbar führen und bewahren. Dass die Begeisterung die Völker bald zum Wahnwitz gebracht hatte, zeigt sich am meisten darin, dass späterhin Scharen von Kindern ihren Eltern entliefen und nach Marseille zogen, um sich dort nach dem gelobten Lande einschiffen zu lassen. Wenige kamen an, und die andern wurden von den Kaufleuten den Sarazenen als Sklaven verkauft.“ (Hegel Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1822-1831,
Quelle: https://www.projekt-gutenberg.org/hegel/vorphilo/chap045.html).
8 Die katholische Kirche selbst bezeichnete den Krieg gegen die Albigenser von 1209-1229 als „Kreuzzug“.
9 Worunter im Mittelalter allgemein das „Zinsnehmen“ verstanden wurde.
10 Allerdings hat die akademische Forschung zu beiden Punkten bisher wenig aus den Quellen ans Tageslicht befördert. Umso wichtiger ist es, diesen Zusammenhang nicht vergessen zu lassen.
11 Der jüdischen Bevölkerung wurde vorgeworfen, dass sie sich als „auserwähltes Volk“ absondern würde und daher selbst die Schuld daran hätte, dass sie Restriktionen ausgesetzt war.