Mai 2022 – FIPS-NEWS Nr. 45: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 9)

Editorial

Das Essay “ Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“ wird mit dem 9. Kapitel fortgeführt. Die nächsten Kapitel erscheinen jeweils in den folgenden FIPS-NEWS.

Wir bitten nochmals um Entschuldigung, dass die Veröffentlichung erst jetzt erfolgt.

10. August 2022 Dr. Peter Milde

9. Umkehrung von Ursache und Wirkung – eine Methode der Judenfeinde

Die Umkehrung von Ursache und Wirkung ist eine seit langem beliebte Methode der Judenfeinde, die hierzu allerlei Legenden und Lügen verbreiten.1

Dieser Methode bedienten sich auch die Aristokraten und Feudalherren und ihre dynastischen Staaten in Deutschland, um gegen die Französische Revolution und ihre Ausstrahlung auf Deutschland vorzugehen. Der Hass der deutschen Reaktion gegen die französischen Revolution und die französische Republik war Pate eines reaktionären völkisch-deutschen Nationalismus, der seine ideologische Kraft aus dem Franzosenhass gewann.

Der deutsche Nationalismus entstand nicht aufgrund einer revolutionären Vereinigung der deutschen Nation in einer antifeudalen bürgerlichen Revolution, sondern auf Grund der Mobilisierung breiter Massen der Bevölkerung unter dem Banner der (preußisch-)dynastischen Reaktion gegen das bürgerliche Frankreich Napoleons und seines Einflusses auf die deutschen Staaten. Über das bürgerliche Frankreich siegten die reaktionären absoluten Monarchien Österreich und Preußen, die zum Träger eines deutschen Nationalismus wurden.2

Dieser deutsche Nationalismus hatte neben dem Franzosenhass – der dem Kern nach ein Hass gegen die Republik und den politischen Liberalismus (einschließlich der Judenemanzipation) war – noch den Judenhass zum Inhalt. Es wurde die Mär geboren und verbreitet, die Juden seien nicht nur für die Ausbreitung der Geldwirtschaft, den wirtschaftlichen Liberalismus, sondern auch für die politische Revolution gegen die Vorherrschaft der Aristokratie in Staat und Kirche und für den politischen Liberalismus, mit seiner Forderung nach Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen, verantwortlich.

Die deutsch-nationalen Judenfeinde, stellten es so hin, als sei die Forderung der jüdischen Bevölkerung nach politischer Emanzipation und gesellschaftlicher Gleichberechtigung die Ursache für die Eskalation der Judenfeindschaft.3 Doch in Wirklichkeit eskalierte der preußisch-deutsche Juden- und Franzosenhass im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aus ganz anderen Gründen:

Es waren ganz und gar nicht die Forderungen von „jüdischer Seite“ nach politischer Emanzipation4, es waren die europaweiten Klassenauseinandersetzungen zwischen Bourgeoisie und feudal-aristokratischer Reaktion, die das Geschehen in Europa bestimmten und die Reaktionäre in Deutschland zu judenfeindlichen Aktionen antrieben.

Preußen und Berlin waren von Truppen des bürgerlichen Frankreich besetzt; der preußische König musste nach Ostpreußen fliehen; aus den von Preußen abgetrennten polnischen Gebieten war wieder ein eigenständiges Polen entstanden; Preußen hatte im Westen die von ihm zuvor einverleibten deutschen Länder wieder verloren; in Westfalen war ein Muster von einem bürgerlich-demokratischen Staat auf deutschem Boden entstanden.

Franzosenhass und Judenhass – dies waren die reaktionären Banner, mit denen die deutsche Bevölkerung aufgehetzt und wieder unter die Fittiche des preußischen Königs, der Habsburger Monarchie und der deutschen Fürsten und aristokratischen Klein- und Kleinststaaten geführt wurden. Der Untertanengeist war einmal wieder stärker als der Drang nach Freiheit und Demokratie. Für die Aussicht auf „nationale Größe“ wurden die bürgerlichen Freiheiten und der republikanische Geist von den Massen der Bevölkerung mit Füßen getreten.5

(Fortsetzung folgt).

31.07.2022 Dr. Peter Milde

Endnoten:

1 Heinrich Heine hat diese Methode in seiner literarischen Darstellung der antijüdischen Massaker im Mittelalter beschrieben:

Die große Judenverfolgung begann mit den Kreuzzügen und wütete am grimmigsten um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, am Ende der großen Pest, die, wie jedes andre öffentliche Unglück, durch die Juden entstanden sein sollte, indem man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hülfe der Aussätzigen die Brunnen vergiftet. Der gereizte Pöbel, besonders die Horden der Flagellanten, halbnackte Männer und Weiber, die zur Buße sich selbst geißelnd und ein tolles Marienlied singend, die Rheingegend und das übrige Süddeutschland durchzogen, ermordeten damals viele tausend Juden, oder marterten sie, oder tauften sie gewaltsam. Eine andre Beschuldigung, die ihnen schon in früherer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch bis Anfang des vorigen Jahrhunderts, viel Blut und Angst kostete, das war das läppische, in Chroniken und Legenden bis zum Ekel oft wiederholte Märchen: dass die Juden geweihte Hostien stählen, die sie mit Messern durchstächen bis das Blut herausfließe, und dass sie an ihrem Passachfeste Christenkinder schlachteten, um das Blut derselben bei ihrem nächtlichen Gottesdienste zu gebrauchen. Die Juden, hinlänglich verhasst wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums, und ihrer Schuldbücher, waren an jenem Festtage ganz in den Händen ihrer Feinde, die ihr Verderben nur gar zu leicht bewirken konnten, wenn sie das Gerücht eines solchen Kindermords verbreiteten, vielleicht gar einen blutigen Kinderleichnam in das verfemte Haus eines Juden heimlich hineinschwärzten, und dort nächtlich die betende Judenfamilie überfielen; wo alsdann gemordet, geplündert und getauft wurde, und große Wunder geschahen durch das vorgefundne tote Kind, welches die Kirche am Ende gar kanonisierte.“ (Heine Heinrich: Der Rabbi von Bacherach, 1840, Quelle: https://www.kostenlosonlinelesen.net/kostenlose-der-rabbi-von-bacherach).

2 Dies hatte für Deutschland eine ganze Reihe sehr negativer Folgen. Zum ersten entwickelte sich der bürgerliche Nationalismus nicht als Bestandteil einer antifeudalen demokratischen Gesinnung und Revolution. Das deutsche Bürgertum ordnete sich dem feudal-dynastischen Nationalismus unter. Zum zweiten entwickelte sich auf Grund der Existenz zweier sich zum „deutschen“ Reich zugehöriger Großmächte – Österreich und Preußen – ein Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland und um eine deutsche nationale Identität, die bekanntlich 1866 und schließlich endgültig 1871 zu Gunsten Preußens und dem Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Reich entschieden wurde. Im Ergebnis verschmolzen der preußische Militarismus und der preußische Untertanengeist mit der deutschen nationalen Identität. Zum dritten erhielt der deutsche Nationalismus von Anfang an einen völkischen Charakter, den Mythos von der „germanischen“ Überlegenheit und von der Überlegenheit des „deutschen Volkes“, da die Germanen als die Zerstörer des Römischen Reiches und als Erschaffer des mittelalterlichen „Reiches“ hochstilisiert wurden. (Nicht umsonst beginnt die Geschichtsschreibung der deutschen Nation mit der Geschichte der Germanen, obgleich beide ja keineswegs identisch sind). Viertens war der Mythos von der Überlegenheit alles Deutschen zugleich auch die Geringschätzung, Missachtung, Ablehnung, Diffamierung und Ausgrenzung alles Fremden, „Welschen“ und auch des Jüdischen.

3 Selbst Gegner der Judenfeindschaft fallen auf diese Mär immer noch herein. So wird beispielsweise behauptet: „Die Situation eskalierte allerdings, als im Jahr 1802 vonjüdischerSeitebeantragtwurde, den Juden in Deutschland nun endlich Bürgerrechte zu erteilen“ (Zur Analyse des Kampfs … Band 2, S. 27).

4 Diese Forderung stand angesichts der Entwicklung der Produktivkräfte und der bürgerlichen Produktionsweise und des Klassenkampfes auf ideologischem Gebiet auch in Deutschland schon längst auf der Tagesordnung, um sie wurde gestritten und sie war keine Forderung der jüdischen Bevölkerung alleine.

5 Der Hass von reaktionären Studenten und städtischen Kleinbürgern gegen den politischen Liberalismus entlud sich 1819 in den sog. „Hep-Hep“-Ausschreitungen, in Angriffen auf die jüdischen Gemeinden, vor allem in Würzburg, Frankfurt und Hamburg.

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