August 2022 – FIPS-NEWS Nr. 48: Zum demokratischen Kampf gegen Judenfeindschaft (Kapitel 12)

Editorial

Das Essay „Zur Geschichte des demokratischen Kampfes gegen Judenfeindschaft“ wird mit dem 12. Kapitel fortgeführt und beendet. Mit den folgenden Zeitabschnitten wird sich ein weiteres Essay beschäftigen, das in Arbeit ist.

10. August 2022 Dr. Peter Milde

12. Ludwig Börne und Heinrich Heine – Vorbilder im Kampf gegen Judenfeindschaft

Börne und Heine lebten und wirkten in einer Zeit, in der der Judenhass insbesondere in den städtischen kleinbürgerlichen Schichten der deutschen Bevölkerung besonders auf Grund der anti-republikanischen und völkisch-nationalistischen Hetze zur Zeit der antinapoleonischen Kriege wieder weite Verbreitung finden und tiefe Wurzeln schlagen konnte. In ihren Schriften nimmt der Kampf gegen den deutsch-völkischen Judenhass einen zentralen Platz ein.

Die deutsche Nation erwachte zu eigener nationaler Identität und eigenem Nationalbewusstsein nicht in einer demokratischen-antifeudalen revolutionären Bewegung, die eine einheitliche deutsche Nation schuf. Dem deutschen Nationalbewusstsein fehlte daher der demokratische Geist der Freiheit und des Republikanismus. Das deutsche Nationalbewusstsein entstand in einem konterrevolutionären Krieg der dynastischen Staaten Preußen und Österreich gegen das bürgerlich-napoleonische Frankreich. Es nahm daher einen nach außen und gegenüber Fremden besonderen aggressiven Charakter an und war geprägt von völkischer Überheblichkeit und Verachtung gegenüber Fremden. Nach innen war es gekennzeichnet von anti-demokratischer Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit.

1819 entlud sich die Unzufriedenheit kleinbürgerlicher städtischer Schichten insbesondere in Würzburg, Frankfurt am Main und Hamburg in den sogenannten judenfeindlichen „Hep-Hep“-Angriffen mit gewalttätigen Attacken gegen die jüdische Bevölkerung, massenhaften Plünderungen und Zerstörungen der jüdischen Gemeinden.

Zu dieser Lage in Deutschland schrieb 1821 der jüdische Schriftsteller Ludwig Börne: „Dem deutschen Volke verzeihe ich den Judenhass … Das deutsche Volk würde hundertmal im Tage umfallen, wenn es ohne Vorurteile wäre. Aber dem einzelnen erwachsenen Menschen kann ich den Judenhass nicht vergeben.1

Zu dem gleichen Problem schrieb 1839 der jüdische Lyriker und Schriftsteller Heinrich Heine: „Ich verdamme nicht den Hass, womit das gemeine Volk die Juden verfolgt; ich verdamme nur die unglückseligen Irrtümer, die jenen Hass erzeugten. Das Volk hat immer Recht in der Sache, seinem Hass wie seiner Liebe liegt immer ein ganz richtiger Instinkt zu Grunde, nur weiß es nicht, seine Empfindungen richtig zu formulieren, und statt der Sache, trifft sein Groll gewöhnlich die Person, den unschuldigen Sündenbock zeitlicher und örtlicher Missverhältnisse(Heine: „Shakespeares Mädchen und Frauen“, 1839, zitiert nach: Zur Analyse des Kampfes …, Band 3, S. 146).

Börne und Heine haben hier ein spezifisch deutsches Problem angesprochen. Dass sich herausbildende deutsche Nationalbewusstsein konnte unter den historischen Umständen gar nicht frei sein vom Judenhass, denn es entstand nicht in einer demokratischen Revolution, die mit reaktionären Vorurteilen und Irrtümern, wie dem Judenhass, Schluss machte. Anders als in der Französischen Revolution wurde der Judenhass zu einem Bestandteil des deutschen Nationalbewusstseins.

Was Börne ansprach, ist, dass ein Volk, das unterdrückt wird, sich erst frei machen muss von „seinen Vorurteilen“, die ihm seit Jahrhunderten eingebläut wurden. Börne scheute nicht vor beißender Anklage gegen die im deutschen Volk von Generation zu Generation weitergegebene tief verwurzelte Judenfeindschaft. Er ließ keinen Zweifel daran, dass nicht einem einzigen Deutschen dieser Judenhass vergeben werden darf.

Auch bei Heine gibt es kein „Verstehen“ noch „Vergeben“ dieses Hasses, dessen Inhalt ja ein reaktionäres antijüdisches Vorurteil, ein Irrtum, ist, der den unschuldigen Sündenbock trifft. Doch Gefühle und Instinkte können nicht allgemein verdammt werden, da sie allzu menschlich sind. Heine differenzierte die Emotionen, die Gefühle von ihren Inhalten, die diese Emotionen, wie den Hass, auslösen.

Die Gestalt des jüdischen Kaufmanns Shylock in Shakespeares Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ – welches nicht nur von Börne, Heine und Marx gegen judenfeindliche Fälscher verteidigt wurde – wird häufig als schauspielerische Verkörperung eines geldgierigen Schurken interpretiert. Unbestreitbar ist, dass erklärte Judenfeinde bis hin zu den Nazis die Figur des Shylock judenfeindlich interpretiert und für ihre mörderische Hetze instrumentalisiert hatten. Doch ist der Umkehrschluss daher berechtigt? Hat die Komödie daher zwangsläufig eine judenfeindliche Intention. Selbst Gegner der Judenfeinde meinen, Shakespeare habe mit Shylock einen Typ auf die Bühne gebracht, der das judenfeindliche Bild eines geld- und blutdürstigen Juden bedient.

Doch „Der Kaufmann von Venedig“ brachte die Rache des verachteten und verspotteten jüdischen Geldverleihers Shylock auf die Bühne: Shylock steht stellvertretend für seine gedemütigten, missachteten und geschundenen jüdischen Schwestern und Brüder. Shylocks Gegenspieler auf der Bühne ist der judenfeindliche und überhebliche christliche Kaufmann Antonio, der Shylock für einen Kredit aufsucht und als Sicherheit ein Pfund aus seinem Fleisch einsetzt. Da Antonio den Kredit nicht rechtzeitig zurückzahlen kann, ist nun die Sicherheit fällig, die Shylock einfordert. Dies ist Shylocks Rache nicht nur für Spott und Beleidigung seiner Person, sondern auch stellvertretend für die Demütigung und Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung. Diese Rache musste als Komödie auf die Bühne gebracht werden, damit sie gerade nicht als judenfeindlich beim Publikum ankam. Und wie es tatsächlich überliefert ist, lachte das englische Publikum nicht nur in der Uraufführung über den hochmütigen venezianischen Kaufmann Antonio, der sich nun seinem von ihm so gering geschätzten Gläubiger ausgeliefert sieht. Die Anklagen Shylocks gegen Antonio und gegen die christliche Gesellschaft sprengen den Charakter der Komödie und lassen den Zuschauer für die jüdische Bevölkerung Partei ergreifen. Doch wie im realen Leben zeigt sich die christliche Gesellschaft in ihrer ganzen Machtfülle. Shylock verliert alles, sein Geld, seine jüdische Identität und auch seine Tochter. Dies ist wieder tragisch und keinesfalls mehr komisch und wieder sind die Sympathien des Publikums bei dem gescheiterten Juden Shylock. Am Ende siegt die so widersprüchliche christliche Welt mit der scheinbar friedlichen Eintracht der Liebespaare.

Wir empfehlen unbedingt Börne und Heine im Original zu lesen.

Bei Heinrich Heine kommt man keinesfalls an seinem fragmentarischen Roman „Der Rabbi von Bacharach“ vorbei.2

Wir möchten hier noch ein kurzes Gedicht von Heine vorstellen, das mit seiner beißenden Ironie, seiner anklagenden Satire und seiner inhaltlichen Aussage fasziniert:

An Edom

Ein Jahrtausend schon und länger

Dulden wir uns brüderlich;

Du, du duldest, dass ich atme,

Dass du rasest, dulde Ich.

Manchmal nur in dunklen Zeiten

Ward dir wunderlich zu Mut,

Und die liebefrommen Tätzchen

Färbtest du mit meinem Blut!

Jetzt wird unsre Freundschaft fester,

Und noch täglich nimmt sie zu;

Denn ich selbst begann zu rasen,

Und ich werde fast wie Du.

Heine verwendet in diesem Gedicht „Dulden“ als Metapher: Das Gesagte, „Dulden wir uns brüderlich“, meint im übertragenen Gemeinten das genaue Gegenteil: Denn „du duldest, dass ich atme“ ist genauso wenige ein tolerantes Dulden, wie „dass du rasest, dulde ich“. Mit „Dulden“ sind die Gegenpole von Macht und von Ohnmacht gemeint.

„Du duldest“ meint: der Aggressor gewährt der jüdischen Bevölkerung gerade noch das Überleben.

„dulde Ich“ meint: die jüdische Bevölkerung erduldet die Gewalt des Aggressors.

Und wenn der Unterdrücker „manchmal“ in der Stimmung war, mordete er ungestraft.

Welch ein Sarkasmus, dass Heine dies als „Freundschaft“ bezeichnet.

Doch „Freundschaft“ ist eine Metapher für Kampf und für die neu anbrechende Zeit. Denn nun kommt Schwung in diese „Freundschaft“, in diesen Kampf der Gegensätze. Das Gesagte, „Jetzt wird unsere Freundschaft fester“, bedeutet im übertragenen Gemeinten das Gegenteil der bisherigen Beziehung zueinander: „Denn ich selbst begann zu rasen“. Nun existiert beiderseitige Feindschaft, beiderseitiger Kampf.

Es soll nicht so bleiben, wie es bisher war. „Jetzt“ soll es anders werden. Die Gegensätze sollen ihre Plätze tauschen. „Ich“ werde wie „Du“: Er-„Dulden“ der Gewalt gehört nun der Vergangenheit an. Auch ich „rase“ meint: dein Hass gebiert meine Rache. Die Gegenwart und die Zukunft gehören dem Kampf der jüdischen Bevölkerung gegen die Judenfeinde, gegen ihre Unterdrücker.

Doch es gibt weiterhin einen wesentlichen Unterschied zwischen „Du“ und „Ich“: Die jüdische Bevölkerung wird nur „fast wie Du“. Die Gewalt der jüdischen Bevölkerung gegen die Judenfeinde ist eine gerechte Gewalt, ein gerechtes Rasen. Wut und Rache gegen die Judenfeinde haben einen gerechten Sinn und Zweck, nämlich die Befreiung von den Unterdrückern und ihre Bestrafung. Die judenfeindlichen Verbrecher und Mörder sollen nicht ungestraft entkommen.3

Bei Ludwig Börne sollte man die zwei kurzen Aufsätze mit dem Titel „Für die Juden“ lesen. Ludwig Börne schrieb sie 1819 als Reaktion auf die judenfeindlichen Hep-Hep-Ausschreitungen des gleichen Jahres. Börne klagte in ihnen sowohl die „geistigen“ Brandstifter als auch die verbrecherischen Praktiker aus dem Volke an:

Es wird mit der schamlosesten Heuchelei gegen die Juden zu Werke gegangen, es werden lügnerische Behauptungen mit solcher Keckheit aufgeführt, dass selbst Gutgesinnte dadurch getäuscht werden, wie sie nicht glauben können, dass man sie so plump betrügen wolle. Darum will ich die Toren entlarven und den Bösewichtern ins Angesicht leuchten.“4

Wer Zeit hat sollte diese beiden mit flammenden Worten und aufrüttelndem Stil geschriebenen kurzen Aufsätze von Börne unbedingt lesen. Denn auch heute noch gilt es Antworten auf die Frage zu finden:

Vormals hatte man aus Glaubenswut Juden und Ketzer verbrannt; (…) womit wird jetzt die Bosheit beschönigt?“

Leider sind deren Antworten viele.

(Ende des Essays).

31.07.2022 Dr. Peter Milde

Endnoten:

1 Z.n.: Zur Analyse des Kampfs gegen Judenfeindschaft, Band 3, S. 89.

2 Der Text ist zu finden unter dem Link: https://www.alemannia-judaica.de/rabbi_von_bacharach.htm oder unter: https://www.projekt-gutenberg.org/heine/bachrach/bacher11.html

3 „Rache: Geschichte und Fantasie“. Unter diesem Thema findet bis zum 3. Oktober 2022 auch eine sehr aufschlussreiche Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt statt. Zweimal in der Woche wird eine Führung durch die Ausstellung angeboten, die sehr zu empfehlen ist.

4 Ludwig Börne, Für die Juden, 1919, z.n.: www.zeno.org/Literatur/M/Börne,+Ludwig/Schriften/Aufsätze+und+Erzählungen/Für+die+Juden

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